Wir beraten

Grundeinkommen und Mindestlohn   

Peter Zürn zum Evangelium am 25. Sonntag im Jahreskreis (18.09.): Mt 20,1–16a, SKZ 36/2011

«Zum Leben brauchen Menschen einen Weinstock und einen Feigenbaum» (Regula Grünenfelder). Die Bibel diskutiert über Grundeinkommen und Mindestlöhne. Sie lädt uns unter Weinstock und Feigenbaum ein, um mitzureden.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ist Toraauslegung in erzählender Form, ein Midrasch zu Lev 19,13 und Dtn 24,14–15. Dazu mehr im «Gespräch mit Matthäus». Zuvor noch 6 Hinweise auf einen anderen biblischen Hintergrund des Gleichnisses: die Verortung im Weinberg eines Gutsbesitzers. Hier ergeben sich vielfältige Spuren für ganz eigene Predigtwege.

1. Weinberge, ihr Besitz und ihr Ertrag sind ein Segen, ein Zeichen des Lebens und der Zukunft. Das muss geschützt und bewahrt werden: Wer einen Weinberg besitzt und noch nicht die erste Lese gehalten hat, ist vom Kriegsdienst befreit (Dtn 20,6 und 1 Makk 3,56); Weinberge anzulegen und zu pflegen, aber die Früchte nicht geniessen zu können, ist dagegen ein Fluch (Dtn 28,39); verwüstete Weinberge sind beklagenswert (Joel 1,7.12) , auch bei anderen Völkern (wie im Fall Moabs in Jes 16,7–14);

2. Weinberge und ihre Besitzverhältnisse sind Indikatoren für soziale Verhältnisse: Der Prophet Samuel warnt vor der Königsherrschaft, weil der König die besten Felder, Weinberge und Ölbäume wegnehmen wird (1 Sam 8,14); in der Erzählung von Nabots Weinberg (1 Kön 21) wird das in brutaler Deutlichkeit ausgestaltet; auf der anderen Seite gehört es zu den Segnungen der Herrschaft König Salomos (oder zumindest zur Vorstellung eines idealen Königs), dass jeder unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum sitzen kann (1 Kön 5,5); nach dem Exil klagen Menschen, dass sie ihre Weinberge verpfänden müssen, um zu überleben (Ärmere verpfänden gar ihre Kinder, Reichere müssen immerhin Geld für die Weinberge aufnehmen, um die Steuern des Königs zu bezahlen, Neh 5,2–5)

3. Weinbergbesitzer stehen exemplarisch für die Einflussreichen und Verantwortlichen in der Gesellschaft. Wenn sie ihre Verantwortung für die Gesamtheit nicht wahrnehmen, wird das an den Erträgen ihrer Weinberge sichtbar werden: Wer «die Gerechtigkeit zu Boden schlägt», wird den Wein aus den eigenen prächtigen Weinbergen nicht trinken (Am 5,11, vgl. Mi 6,15); Wer «Haus an Haus reiht und Feld an Feld» fügt, bis kein Platz mehr da ist», dessen Weinberg wird nur geringen Ertrag bringen (Jes 5,10).

4. Dass Menschen Reben pflanzen und Weingärten anlegen, ist Ausdruck des rettenden und segnenden Wirkens Gottes (2 Kön 19,29; Ps 107,37; Jer 31,5, Joel 2,22 und Am 9,14); der Weinberg wird zum Bild der Verheissung; in Jer 32 wird die Verheissung («man wird wieder Häuser, Äcker und Weinberge kaufen in diesem Land») in eine prophetische Zeichenhandlung, eben den Kauf eines Ackers umgesetzt; darin liegt aber auch sozialer Konfliktstoff verborgen: Jes 61,5 sieht vor, dass Ausländer als Winzer bereitstehen, die die anstrengende Arbeit tun; und in der Verheissung von Jes 62,8–9, die sich auf Israel und feindliche Völker bezieht – «wer den Wein geerntet hat, soll ihn auch trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums» –, liegt sozialer Sprengstoff; die messianische Verheissung von Sach 3,10 («an jenem Tag werdet ihr einander einladen unter Weinstock und Feigenbaum» ), weist vielleicht einen friedlichen Weg aus den Konflikten.

5. Israel ist der Weinstock Gottes. Gott hat ihn in Ägypten ausgehoben und im verheissenen Land angepflanzt (Ps 80,9–10); mit dem Bild verbinden sich Grossmachtphantasien: «Seine Ranken trieb er bis zum Meer, seine Schösslinge bis zum Euphrat» (80,12); Jesaja nimmt das Bild mehrfach auf: in 1,8 gleicht Zion einer verlassenen Hütte im Weinberg; in 3,14 werden die Ältesten und Fürsten angeklagt, weil sie den Weinberg (das Volk, die Armen) ausgeplündert haben; in den beiden Weinberg-Liedern (5,1–7 und 27,2–6) ist das Bild einmal als Kritik und Drohung, einmal als Zusage gestaltet, bei anderen Propheten dominiert Ersteres (vgl. Jer 2,21; 5,10; 6,9, 8,13; Hos 10,1; Ez 15 und 17), in Jer 12,10 wird allerdings stark die Trauer Gottes über seinen verwüsteten Weinberg spürbar.

6. Nicht nur ein Volk, auch Einzelne können ein «Weinberg» sein: Das Bild von der Ehefrau als fruchtbarem Weinstock in Ps 128,3 ist von Hochachtung und patriarchalem Besitzdenken geprägt; Spr 31,16 benennt eindeutig eine Frau als Besitzerin eines Weinberges und stellt sie damit dem Kohelet, dem Davidssohn, der König in Jerusalem war, gleich (Koh 1,1 und 2,4); das Hohe Lied bringt den Weinberg in einen erotischen Kontext (1,6; 2,15; 4,12–13; 6,11); Sir 28,24 gebraucht den Weinberg sprichwörtlich: «Deinen Weinberg umzäunst du mit Dornen; mach auch Tür und Riegel an deinen Mund». Sir 36,30 tut das Gleiche geschlechtsspezifisch; Hos spielt mit verschiedenen Ebenen des Weinberg-Bildes. Er klagt über das Volk Israel als treulose Ehefrau Gottes und spricht dieser Frau Reben und Feigenbäume zu, die ihre Liebhaber ihr als Lohn gegeben haben; die Weingärten werden zerstört, aber wieder neu gegeben (Hos 2,14.17).

«Im Gespräch mit Matthäus»

Mt 20,1–16 ist Gespräch mit und Auslegung von Lev 19,13 und Dtn 24,14–15. Dabei stehen schon die beiden Torastellen in einem komplexen Gespräch miteinander. Es könnte so geführt werden (Bibelzitate kursiv): Der Lohn eines Tagelöhners soll nicht über Nacht bis zum Morgen bei dir bleiben (Lev).

Gilt das nur für die Beziehung eines Arbeitgebers zu seinen Tagelöhnern? – Nein, das gilt ganz grundsätzlich: Du sollst deinen Nächsten nicht ausbeuten und ihn nicht um das Seine bringen (Lev). – Aber gibt es Menschen, für die das besonders wichtig ist? – Ja, für die Notleidenden und Armen unter deinen Brüdern (Dtn). – Ist die Weisung also auf Verwandte und Stammesangehörige begrenzt? – Nein, sie gilt auch für die Fremden in deinem Land (Dtn). – Und warum? – Weil all das Menschen sind, die in Not sind, die danach lechzen (Dtn), die dessen existentiell bedürfen.

Hier mischt sich Matthäus mit dem Gleichnis ins Gespräch ein: Menschen das zu geben, was sie existentiell brauchen, das ist geben, was recht ist. Wer ihnen das vorenthält, der bringt sie um das Ihre, wie Lev sagt. Daran muss sich der Lohn für die Arbeit orientieren. – Vielleicht reagiert jetzt Dtn noch einmal: Die Armen, Notleidenden und Fremden wissen, dass sie die Unterstützung anderer brauchen, um leben zu können. Lernen müssen es die Reichen und Mächtigen. Die stehen in Gefahr, es zu vergessen. Die müssen Weisungen bekommen. Da sind auch starke Worte angebracht, wie Sünde und Strafe.

Die Starken sind aber auch eingeladen, es Gott gleichzutun. Denn Gott lässt sich von den Bedürftigen anrufen und steht auf ihrer Seite. – Bist du neidisch, weil ich gütig bin?» fragt das Gleichnis und lockt damit, sich miteinander an der Güte zu freuen.

Und vielleicht erinnert diese Frage an eine andere biblische Frage nach starken Gefühlen: Ist es recht von dir, zornig zu sein? (Jona 4,4). Und so wird das Gespräch weiter und weiter geführt. Am besten unter einem Weinstock und einem Feigenbaum.