Wir beraten

Selig, die geglaubt hat   

Hanspeter Ernst zum Evangelium an Mariä Aufnahme in den Himmel: Lk 1,39–56, SKZ 31-32/2011

Zwei Frauen begegnen einander. Beide schwanger. Bei beiden ist die Schwangerschaft etwas Besonderes. Bei beiden spielen die Männer eine unterschiedliche Rolle. Später erfahren wir von der Geburt der Kinder. Auch die ist besonders. Zwei Frauen, zwei Kinder, zwei Geschichten. Doch nun, zwischen der Geschichte der Verheissung und der Geschichte der Geburt, begegnen sich die beiden Frauen. Ihre Geschichten kommen zusammen. Sie werden verknüpft durch den Lobgesang Marias, das Magnifikat. Die literarische Komposition bringt es mit sich, dass dieser Lobgesang wohl von Maria gesungen wird, aber ebenso gut von Elisabeth hätte gesungen werden können. Ja, einiges von dem, was Maria singt, würde eigentlich besser auf Elisabeth passen. Doch ist dies nicht so wichtig. Wichtig ist einzig, dass Marias Lobgesang auch Elisabeths Lobgesang ist und dass dieser Lobgesang die Treue des Gottes Israel preist, der seine Versprechen an Israel, seinem Knecht, wahrmacht. Wichtig auch ist die Aussage Elisabeths: «Ja, selig, die geglaubt hat, dass in Erfüllung geht, was ihr vom Herrn gesagt wurde» (Lk 1,45). Eine Aussage, die auch auf sie – nicht nur auf Maria – zutrifft.

Was in den Schriften geschrieben steht

Wie schon ein kurzer Blick auf die vielen biblischen Verweisstellen zeigt, ist das Magnifikat so durchtränkt mit den Schriften Israels, dass es sich nicht ohne diese verstehen lässt. Auf diese Fülle sei eigens hingewiesen, damit die Predigenden nicht der Versuchung erliegen, vor lauter Betonung der Einzigartigkeit Marias Israel und dessen Gott zu vergessen. Erinnert sei vor allem an Ps 113, ein Loblied auf den Namen des Ewigen. «Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobt der Name des Ewigen (…) Wer ist wie der Ewige, unser Gott, der hoch oben thront (…). Der aufrichtet aus dem Staub den Bedürftigen, der aus dem Kot den Armen erhebt, ihn neben dem Edlen sitzen zu lassen, neben den Edlen seines Volkes, der wohnen lässt die Unfruchtbare / Entwurzelte im Hause – Mutter der Söhne / Kinder, freudige» (Ps 113, 4–9). Der Name steht für die Identität Gottes. Wer ist Gott? Er/sie wird offenbar in dem, was sie wirkt: richtet auf aus dem Staub den Bedürftigen, erhebt aus dem Kot den Armen, ihn neben den Edlen sitzen zu lassen. Oder mit den Worten Marias: «Denn er hat hingesehen auf die Niedrigkeit seiner Magd (…), denn Grosses hat der Mächtige an mir getan, und heilig ist sein Name (…). Gewaltiges hat er vollbracht mit seinem Arm, zerstreut hat er, die hochmütig sind in ihrem Herzen. Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht. Hungrige hat er gesättigt mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen» (Lk 1,47–53). Gewiss, Maria spricht von den Mächtigen, die vom Thron gestürzt werden und die mit leeren Händen dastehen. Das sagt der Psalm nicht. Aber die Vorstellung ist dieselbe: Es geht beim Magnifikat ja nicht einfach darum, dass die Verhältnisse in dem Sinne umgestürzt werden, dass diejenigen, die jetzt unten sind, oben sind und dass die, die einst oben waren, jetzt unten sind. Denn das würde ja nur bedeuten, dass sich die Geschichte der Unterdrückung immer wiederholen muss. Genau das aber ist nicht der Fall. Maria ist schwanger. Und das heisst: Neues bricht durch. Es gibt einen Riss, einen Unterbruch. Das Neue ist nicht die Wiederholung des Alten: denn der Arme sitzt neben dem Edlen. Diejenigen, die Hunger haben und die dermassen im Schlamassel drinstecken, dass sie im Kot buchstäblich zugrunde gehen, werden herausgezogen. Damit das geschehen kann, müssen die Verhältnisse geändert werden. Die Armut, der Hunger, von denen hier die Rede ist, sie lassen sich nicht einfach in einen geistigen Raum transponieren. Ebenso wenig lassen sie sich auf eine innere Haltung reduzieren, auf ein Tun als ob. In diesem Sinne ist der Lobgesang Marias radikal. Denn Mächtige müssen vom Thron stürzen, weil anders neben ihnen zu sitzen nicht möglich ist. Man kann nicht die Strukturen bestehen lassen, die zur Folge haben, dass Menschen im Kot nicht mehr gesehen werden oder sogar buchstäblich darin ersticken. Gott aber sieht hin, singt Maria. Das ist kein neutraler und beobachtender Blick. Wenn der Gott Israels sieht, ist es Parteinahme. «Siehe, das Schreien der Israeliten ist zu mir gedrungen, und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie quälen. Und nun geh, ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, heraus aus Ägypten» (Ex 3,9 f.).

«Ja, selig, die geglaubt hat, dass in Erfüllung geht, was ihr vom Herrn gesagt wurde» (Lk 1,45). Diese Seligpreisung klingt auf dem Hintergrund des eben Gesagten voller. Elisabeth spielt damit nicht nur auf den Besuch des Engels bei Maria und deren Antwort an, sie erinnert ebenso an die Geschichte der Verheissungen des Gottes Israels: Wahr geworden sind diese Verheissungen im Leben von Elisabeth und Maria, mindestens zum Teil. Doch schon ein kurzer Blick in unsere Welt belehrt uns eines anderen. Angesichts dieser Sachlage kommen Zweifel an der Verheissung auf. Wie gut ist es da, dass Maria seliggepriesen wird für ihren Glauben. Jenen Glauben, der den Widerspruch anmeldet zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Dem Glauben, der nicht wegsehen lässt und der deshalb zum Tun führt. Dem Glauben, der an der Verheissung Gottes festhält, auch wenn es den Eindruck machen kann, dass Gott selbst sich nicht mehr daran hält. Vergessen wir nicht: Wie gewaltig muss dieser Glaube gewesen sein, wenn er das Neue, noch Ungeborene, bereits im Mutterschoss vor Freude hüpfen lässt.

Mit Lukas im Gespräch

Lukas stellt das Magnifikat ziemlich an den Anfang seines Evangeliums und gibt ihm damit eine zentrale Stellung. Das ist nicht zufällig. Denn in seinem Evangelium spielen die Armen eine besondere Rolle. Und dass er mit ihnen die wirklich Armen meint, braucht keine eigene Begründung. Armut ist sichtbar, auch wenn sie unsichtbar gemacht wird. Sie trifft und entstellt Menschen körperlich. Von daher ist es kein schlechter Zufall, wenn wohl in Ermangelung anderer biblischer Texte über Maria dieser Text am Hochfest der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel gelesen wird. Es gehört zum alten Glaubensgut der Kirche, dass Maria entschlafen und aus diesem Grunde auch nicht verwest ist. Papst Pius XII. erhob im Jahre 1950 dieses Glaubensgeheimnis für die römisch-katholische Kirche zum Dogma. Die lehramtlichen Gründe, die dafür ausschlaggebend waren, brauchen hier nicht diskutiert zu werden. Wer an die Auferstehung des Leibes (für die ich immer noch lieber die alte Formulierung «Auferstehung des Fleisches» verwende) glaubt, wird einfach hellhörig und hinsehen auf die Rolle, die dieser Leib in diesem Leben spielt, und er wird sich auch kritisch auseinandersetzen müssen mit dem, was aus dieser Rolle alles abgeleitet wird. Und heilsam wäre es auch, sich mit dem Zeitpunkt auseinanderzusetzen, an dem dieses Glaubensgeheimnis zum Dogma erhoben wurde. Es war nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Papst, der das Dogma verkündete, wusste von den grauenhaften Verbrechen, die an den Juden, den Sintis und Romas und Homosexuellen verübt wurden. Um grössere Übel zu vermeiden, hat er seine Stimme dagegen nicht laut erhoben. Auferstehung des Fleisches gegen die rauchenden Schornsteine? Da steht noch einiges an. Zu vieles stemmt sich bis heute dagegen. Umso wichtiger ist es, die biblischen Stimmen der Frauen zu hören. Umso wichtiger auch, uns von ihrem Glauben anstecken zu lassen: « … wie er es unseren Vätern und Müttern versprochen hat» (Lk 1,55).