Wir beraten

Satt vom Überfluss   

Katharina Schmocker Steiner zum 20. Sonntag im Jahreskreis: Mt 15,21–28, SKZ 31-32/2011

Es ist, gelinde ausgedrückt, schon zynisch, mit den Bildern von ausgemergelten, verhungernden Kindern (und Erwachsenen) im Hinterkopf durch die langen Regale voller verschiedenster Katzen- und Hundefutterkreationen und «Guddis» im Laden zu gehen. Unsere Zeit wird durch die Antwort Jesu offensichtlich treffender kritisiert als die Bitte der kanaanäischen Frau: «Es ist nicht in Ordnung, den Kindern das Essen zu nehmen und den Hündchen (kynarioi) zuzuwerfen» (Mt 15,26).

«... was in den Schriften steht»

In Psalm 147 wird gejubelt: «Der Herr baut Jerusalem auf und bringt zusammen die verstreuten Israels. (…) lobe Zion, deinen Gott! Denn er macht fest die Riegel deiner Tore und segnet deine Kinder in deiner Mitte. Er schafft deinen Grenzen Frieden und sättigt dich mit dem besten Weizen. Er sendet sein Gebot auf die Erde, sein Wort läuft schnell. (…) Er verkündigt Jakob sein Wort, Israel seine Gebote und sein Recht. So hat er an keinem Volk getan; sein Recht kennen sie nicht» (Ps 147,2.12b.–15.19–20). Diese Tradition der besonderen Zuwendung Gottes zu seinem (versprengten) Volk führt Jesus offenbar weiter, wenn er gemäss Mt die Zwölf bei deren Aussendung ermahnt: «Gehet nicht auf der Heiden Strasse und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.» (Mt 10,5 f.). Auch seine eigene Mission schränkt er ein, indem er den Jüngerinnen und Jüngern antwortet: «Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel» (Mt 15,24).

Diesem Partikularismus steht (gut jüdisch) die – neutestamentlich gesehen ältere – Tradition des Universalismus entgegen: «Denn, das sage ich, Christus ist um der Wahrhaftigkeit Gottes willen Diener der Beschnittenen geworden, damit die Verheissungen an die Väter bestätigt werden. Die Heiden aber rühmen Gott um seines Erbarmens willen; es steht ja in der Schrift: Darum will ich dich bekennen unter den Heiden und deinem Namen lobsingen. An anderer Stelle heisst es: Ihr Heiden, freut euch mit seinem Volk! Und es heisst auch: Lobt den Herrn, alle Heiden, preisen sollen ihn alle Völker. Und Jesaja sagt: Kommen wird der Spross aus der Wurzel Isaias; er wird sich erheben, um über die Heiden zu herrschen. Auf ihn werden die Heiden hoffen» (Röm 15,8–12).

Auch Mose sieht in der speziellen Beziehung zwischen Gott und Israel nicht nur einen Erweis der Auserwählung, sondern ein heilsgeschichtliches Ziel: «Hiermit lehre ich euch, wie es mir der Herr, mein Gott, aufgetragen hat, Gesetze und Rechtsvorschriften. Ihr sollt sie innerhalb des Landes halten, in das ihr hineinzieht, um es in Besitz zu nehmen. Ihr sollt auf sie achten und sollt sie halten. Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung in den Augen der Völker. Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennen lernen, müssen sie sagen: In der Tat, diese grosse Nation ist ein weises und gebildetes Volk. Denn welche grosse Nation hätte Götter, die ihr so nah sind, wie Jahwe, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen? Oder welche grosse Nation besässe Gesetze und Rechtsvorschriften, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?» (Dtn 4,5–8). Die Zuwendung Gottes zu Israel soll die Zuwendung der Völker zu Gott erleichtern oder gar erst ermöglichen.

Mit Matthäus im Gespräch

Die Parallelstelle, die zur Erwiderung Jesu an die Frau angeführt wird, scheint seine abwehrende Haltung zu bestätigen: «Gebt das Heilige nicht den Hunden, und werft eure Perlen nicht den Schweinen vor, denn sie könnten sie mit ihren Füssen zertreten und sich umwenden und euch zerreissen» (Mt 7,6). Doch der Kontext dieser Stelle lässt nicht darauf schliessen, dass hier mit den Hunden und Schweinen eindeutig die Heiden identifiziert werden sollen. Im grossen Rahmen der «Bergpredigt» ist der Vers gerahmt durch die Ermahnung, nicht zu richten und sich zuerst um den Balken im eigenen Auge zu kümmern, bevor dem Bruder oder der Schwester angeboten wird, ihm bzw. ihr den Splitter aus dem Auge zu ziehen und durch die Verheissung: «Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet» (Mt 7,7).

Vielleicht liegt die Parallelität gar nicht im Bild der (streunenden) Hunde (kynoi) von Mt 7,6 und der (Schoss-)Hündchen (kynarioi) von Mt 15,26, sondern in der Rahmung. Die harte Abwehr Jesu gegenüber der Frau liegt nicht in dem Wort, dass er nur zu den verstreuten Schafen Israels gesandt sei, denn dieses Wort richtet er an die Jüngerinnen und Jünger, die ihn drängen, die Frau «loszulösen». (Da sie dies begründen, «denn sie schreit hinter uns her», ist ihre Absicht nicht eindeutig. Wollen sie, dass Jesus ihr hilft oder sie wegschickt, sodass sie ihn wieder «für sich» haben?) Die Härte in der Abwehr liegt darin, dass Jesus der Frau «nicht antwortet mit keinem Wort» (Mt 15,23). Dieses Schweigen zusammengenommen mit der Antwort an seine Gefolgschaft könnte jedoch statt als Abwehr auch gedeutet werden mit der Paraphrase: «Es liegt nicht an mir, ihr zu helfen. Das ist nun eure Aufgabe.» Und im Hinblick auf die Rahmung der zitierten Parallelstelle könnte der Gedanke weitergesponnen werden: «Doch zuerst müsst ihr die Botschaft selber verstehen (den Balken aus eurem Auge ziehen), sodass sie nicht letztlich gegen euch verwendet werden kann, weil ihr euch nicht eurer Verkündigung entsprechend verhaltet.»

Die Verheissung im zweiten Teil der Rahmung «Bittet, dann wird euch gegeben …» erfüllt Jesus exemplarisch selbst, indem er nun doch die Tochter der Frau (und anschliessend viele Kranke aller Art [Mt 15,30]) heilt, die ihn von ihrem Glauben überzeugen kann. Dieser besteht nicht in der Forderung, dass das Heil quasi von Israel (den Kindern) weggenommen werden soll – z. B. weil die Juden und Jüdinnen es nicht mehr verdienen würden –, sondern in der Überzeugung, dass das Heil in solchem Übermass von Gott kommt, dass auch für die restliche Menschheit (die Hündchen) genügend abfällt, und zwar schon während der Mahlzeit (von den Tischen) und nicht erst, wenn die Kinder satt sind. Für den ersten Teil dieser Deutung spricht die Tatsache, dass den (verlorenen) Schafen nicht wie so oft die Wölfe gegenübergestellt werden, hier nicht einmal die (verwilderten) Hunde, sondern Hündchen, die offenbar zum Haushalt gehören. Vom Überfluss spricht der Kontext, indem vor dieser Episode (Mt 14,13–21) von der Speisung der Fünftausend, bei der zwölf Körbe mit Resten gefüllt werden und danach (Mt 15,32–38) von der Speisung der Viertausend, die sieben Körbe voller Brocken übrig liessen, erzählt wird.

Das Sonntagsevangelium gibt damit Denkanstösse auf der theologischen wie auf der profan-politischen Ebene. Sowohl im Hinblick auf den interreligiösen Dialog als auch im Hinblick auf die Verteilung der Güter (Wasser, Nahrungsmittel, Rohstoffe usw.) verhindert die Angst, es könnte einem etwas weggenommen werden, das Erkennen des Überflusses, der vergammelt, nur weil wir nicht bereit sind, das «über das Nötige hinaus» abzugeben. Gott gibt im Überfluss; die gerechte Verteilung ist unsere Angelegenheit – und würde uns keinen Mangel bescheren.