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Die Gotteserscheinung auf dem See   

Hans Rapp zum Evangelium am 19. Sonntag im Jahreskreis: Mt 14,22–33, SKZ 31-32/2011

Über den Gang Jesu auf dem Wasser zu predigen ist nicht leicht. Die Perikope gehört zu den bekanntesten Erzählungen des Neuen Testaments. Witze und Karikaturen sind dazu im Umlauf.

Je bekannter ein Text ist, desto schwieriger ist der Zugang zu ihm. Unser eigenes Vorverständnis blockiert uns. Wir lesen immer nur heraus, was wir schon zu wissen glauben. Ein genauer Blick auf das Evangelium führt uns einen eindrücklich gestalteten Text vor Augen, in dem sich Gott selbst offenbart.

Im Gespräch mit Matthäus

Die Erzählung vom Gang Jesu auf dem Wasser steht im Zusammenhang einer Reihe von Erzählungen, die mit der Hinrichtung Johannes’ des Täufers ihren Anfang nimmt: die Brotvermehrung, der Gang Jesu über das Wasser. Wie die vorhergehende Erzählung von der Brotvermehrung (Mt 14,13–21) setzt auch das heutige Evangelium damit ein, dass Jesus allein sein will. Er betet. Er schickt die Volksmenge, die soeben noch auf wundersame Weise versorgt wurde, nach Hause. «Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät am Abend war er immer noch allein auf dem Berg» (Mt 14,23).

Die zweite Szene auf dem See setzt mit Vers 24 ein: «In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen; er ging auf dem See.» Es fällt auf, dass sich der Fokus im Lauf der Erzählung zunächst auf das Boot, dann auf die Jünger als Gruppe und schliesslich auf Petrus konzentriert. Gegen Ende weitet er sich wieder auf Jesus und Petrus gemeinsam und schliesslich, mit dem letzten Vers, wieder auf die Jünger aus.

Die Erzählung hat als solche keine Parallele im Ersten Testament. Die vielen wörtlichen und inhaltlichen Übereinstimmungen mit dem Text bei Mk 6,45–52 deuten darauf hin, dass Matthäus die Erzählung im Markusevangelium vorgefunden und weiter gestaltet hat. Die Erzählung weicht aber in zwei Teilen entschieden von der Vorlage des Markusevangeliums ab. Die umfangmässig grösste Neugestaltung von Matthäus betrifft den Teil mit Petrus. Er findet sich weder bei Markus noch in der Parallele im Johannesevangelium (Joh 6,16–21). Was dabei auffällt, ist die Reaktion von Petrus auf das vermeintliche Gespenst (griechisch: phantasmá). Die Jünger erschrecken und haben Angst (Mt 14,26).

Das Erste, was er den Jüngern auf dem See zuruft, ist: «Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!» (Mt 14,27). Jesus weiss also um diese erschreckende Seite an ihm. Als Antwort auf die Beruhigung Jesu antwortet Petrus mit einem Satz, bei dem ich hängen geblieben bin: «Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme» (14,28). Petrus – und mit ihm die Jünger – sind sich unklar, wie sie dieses «Phantasma» zu deuten haben. Selbst die Worte Jesu scheinen sie nicht zu beruhigen. Für Petrus steht die Identität Jesu erst dann fest, wenn Jesus ihn beruft.

Es scheint nicht das Wunder selbst zu sein, das Jesus ausmacht, sondern die Tatsache, dass er seine Jüngerinnen und Jünger zu seiner Nachfolge beruft. Die Antwort Jesu ist einfach: «Komm» (Mt 14,29). Petrus verlässt auf diese Berufung hin das Boot und geht Jesus auf dem Wasser entgegen. Angesichts der Wellen bekommt er Angst und beginnt zu versinken. Er schreit um Hilfe: «Herr, rette mich.» Jesus streckt ihm die Hand entgegen. Gleichzeitig hält er ihm einen Spiegel vor Augen: «Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?» (Mt 14,31).

Die zweite abweichende Passage im Vergleich zu Markus ist der Schluss der Erzählung. Markus stellt das bleibende Unverständnis der Jünger fest: «Dann stieg er zu ihnen ins Boot, und der Wind legte sich. Sie aber waren bestürzt und ausser sich. Denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen, als das mit den Broten geschah; ihr Herz war verstockt» (Mk 6,51 f.). Bei Matthäus findet sich das Gegenteil, wenn er formuliert: «Die Jünger im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, die bist Gottes Sohn» (Mt 14,33). Damit bringen die Jünger bei Matthäus auf den Punkt, was die Erzählung ist: eine Gottesoffenbarung. Anders als bei Markus verstehen die Jünger bei Matthäus sehr wohl, was sich auf dem See ereignet hat.

Wie es in den Schriften geschrieben steht

Tatsächlich hat das Geschehen die Elemente einer Gottesoffenbarung in sich. Hier stossen wir auch auf das ersttestamentliche Erbe, das sich in dieser Wundererzählung erst auf den zweiten Blick erschliesst. Es ist bereits in der markinischen Erzählung angelegt. Einige Hinweise mögen hier genügen. Wenn die Jünger über das «Phantasma» erschrecken, gibt Mt dieses Wort mit dem griechischen Wort «tarassô» wieder. Die Einheitsübersetzung gibt das mit «erschrecken» wieder. Betrachtet man aber, wie die erste jüdische Übersetzung der Bibel ins Griechische (Septuaginta) dieses Wort wiedergibt, wird eine ganz andere Dimension sichtbar.

Vor allem in den Psalmen bedeutet dieser Begriff «in den Grundfesten erschüttert sein». Oft wird diese Erschütterung durch die Erscheinung Gottes hervorgerufen. Als Beispiel kann die griechische Übersetzung von Psalm 18,7 f. dienen:

«Und in meiner Bedrängnis rief ich zum Kyrios und zu Gott schrie ich.
Er hörte meine Stimme aus seinem heiligen Tempel heraus
und mein Rufen fand seinen Weg in seine Ohren.
Dann wankte die Erde und bebte
und die Grundfesten der Berge wurden erschüttert (tarassô) und wankten,
weil Gott auf sie zornig war.»

Die Jünger wurden also in ihren Grundfesten erschüttert durch das, was sie sahen. Diese erschreckende Über-Macht Gottes wird zumindest für Petrus zugänglich, weil Jesus ihn beruft. Eine Berufungsszene, bei der die Elemente ausser Kraft gesetzt werden – das erinnert an die Berufung von Mose. Ist es ein Zufall oder wollte Matthäus hier auf die Erzählung von Mose am Dornbusch anspielen? Entspricht Jesus, der auf dem Wasser geht und doch nicht versinkt, dem Gott Israels, dessen Flamme im Dornbusch brennt und ihn nicht verbrennt (Ex 3)?

Auch diese Erzählung ist ja eine Berufungserzählung: Mose wird zur Rettung Israels berufen. Wie Petrus befallen Mose Zweifel gegenüber dieser Berufung (Ex 4,1.10.13). Mose lässt sich dennoch auf das Wagnis ein. Auch in der biblischen Exodus-Erzählung wird Gott erfahrbar als der, der das Schreien seines Volkes hört. Auf das Schreien von Petrus streckt auch Jesus seine rettende Hand aus. Wenn Petrus in Mt 14,28 die Anrede «Kyrie» verwendet bzw. wenn Matthäus Petrus diese Anrede in den Mund legt, verwendet er die Gottesbezeichnung der Septuaginta. Kyrios ist dort die Übersetzung des Tetragramms JHWH, des Eigennamens Gottes. Matthäus verwendet diese Anrede oft an Stellen, in denen Menschen um die heilende Kraft Jesu wissen und von ihm Heilung und Rettung erwarten. Beispiele sind hier die Heilung eines Aussätzigen (Mt 8,2), die Heilung des Dieners des Hauptmanns von Kafarnaum (Mt 8,6.8) oder die Erzählung von der Not der Jünger während des Seesturms (Mt 8,25).

In den Psalmen finden sich solche Rufe in Überfülle. Ein Beispiel ist Ps 79,9: «Hilf uns, Gott unser Retter. Um der Ehre deines Namens willen, Kyrie, rette uns; und sei gnädig mit unseren Sünden, um deines Namens willen.»