Wir beraten

Wenn die Wüste zum Garten wird …   

Dieter Bauer zum Evangelium am 18. Sonntag im Jahreskreis: Mt 14,13–21 SKZ 29-30/2011

Mit dem heutigen Evangelium wird ein Text gelesen, der lange als «Die wunderbare Brotvermehrung» bezeichnet wurde. Von dieser etwas magischen Vorstellung, die im Übrigen Jesus selbst als Versuchung angesehen hat (Mt 4,3 f.), ist man inzwischen abgekommen. Was ist dann aber das Wunder, von dem hier erzählt wird?

«Was in den Schriften geschrieben steht»

Unser Evangelientext beginnt mit zwei Versen, die in den Kommentaren meist als «Situationsangabe» oder als «Sammelbericht» gekennzeichnet werden. Beides aber greift zu kurz. Genau genommen handelt es sich bei Mt 14,13 f. um eine Überleitung zwischen der Erzählung vom «Tod des Täufers» (14,1–12) und der «Speisung der Fünftausend». Was haben diese beiden Erzählungen miteinander zu tun? Das Bindeglied heisst Elija, auch wenn der Name in beiden Erzählungen gar nicht fällt. Wer allerdings die Schriften kennt, muss auf dieses Bindeglied stossen! In Mt 11 hatte Jesus Stellung zum Täufer bezogen: «Ja, ich sage euch: Ihr habt sogar mehr gesehen als einen Propheten. Er ist der, von dem es in der Schrift heisst: Ich sende meinen Boten vor dir her; er soll den Weg für dich bahnen (Mal 3,1). (…) Und wenn ihr es gelten lassen wollt: Ja, er ist Elija, der wiederkommen soll. Wer Ohren hat, der höre!» (Mt 11,9.14 f.). Mit dem Zitat aus Maleachi, das den Abschluss des Prophetenkanons bildet, identifizierte Jesus Johannes den Täufer als den wiedergekommenen Elija, so wie Herodes Jesus als den wieder auferstandenen Johannes den Täufer identifiziert hatte (14,2). Nun, nach dessen Tod, von dem Jesus «hörte» (14,13), zieht auch er sich wie der Täufer in die Wüste zurück (griechisch: eremos; Einheitsübersetzung: «einsame Gegend»). Aber sein Ruf kann nicht verborgen bleiben: «Die Leute in den Städten hörten davon und gingen ihm zu Fuss nach» (14,13). Und Jesus erfüllt die Erwartungen, welche Menschen in den wiederkommenden Elija setzten: Er heilt Kranke wie Elija (14,14; vgl. 1 Kön 17,17–24), und er speist sie auf wunderbare Weise (14,15–21; vgl. 1 Kön 17,8–16).

Dass die bei Matthäus aufgeführte Speisungserzählung eindeutig eine Elischaerzählung zum Vorbild hat, ist kein Widerspruch. Im Laufe der Zeit verschmolzen Elija und sein Schüler Elischa zu einer Person, und die Prophetenerzählungen gingen von einem auf den anderen über, was man z. B. an Doppelerzählungen erkennen kann. Die Speisungserzählung des Elischa lautet folgendermassen: «Einmal kam ein Mann von Baal-Schalischa und brachte dem Gottesmann Brot von Erstlingsfrüchten, zwanzig Gerstenbrote, und frische Körner in einem Beutel. Elischa befahl seinem Diener: Gib es den Leuten zu essen! Doch dieser sagte: Wie soll ich das hundert Männern vorsetzen? Elischa aber sagte: Gib es den Leuten zu essen! Denn so spricht der Herr: Man wird essen und noch übrig lassen. Nun setzte er es ihnen vor; und sie assen und liessen noch übrig, wie der Herr gesagt hatte» (2 Kön 4,42–44). Die Bezüge zur Jesuserzählung des Matthäus sind eindeutig: die zu geringen Nahrungsvorräte, der Zweifel des Dieners, der Befehl des Gottesmanns, trotzdem zu essen zu geben, und schliesslich, dass noch etwas übrig bleibt. Genauso eindeutig ist, dass die einzelnen Motive in der Jesuserzählung gesteigert vorkommen: statt 20 Broten nur 5, statt 100 (hungrigen) Männern 5000 und «dazu noch Frauen und Kinder» (Mt 14,21). Die «zwölf Körbe» mit den «übrig gebliebenen Brotstücken» stellen einen eindeutigen Bezug auf das wiederhergestellte Israel dar, eine Aufgabe des Messias!

Aber es gibt noch andere Bezüge zu den Schriften: Die «Wüste», in welcher Jesus das Volk heilt und speist, ist sicher durchsichtig auf die Zeit der Wüstenwanderung hin, als die Hebräer dort die Fürsorge Gottes erfuhren (z. B. durch die wunderbare Speisung mit Manna und Wachteln; Ex 16,6-20; Num 11,4-35). Nimmt man Bilder aus Ps 23 hinzu, wo JHWH als der gute Hirt so sorgt, dass nichts fehlen wird (vgl. auch Ez 34,14 f.), aber auch den Propheten Jesaja, der die angebrochene Heilszeit als Festmahl der Völkergemeinschaft beschreibt (Jes 25,6), wird deutlich, was die Speisungserzählung sagen will: Die messianische Zeit ist bereits angebrochen, in Jesus von Nazaret ist JHWH bei seinem Volk gegenwärtig, der Immanuel (Mt 1,23; vgl. Jes 7,14), der «Gott mit uns», der sein Volk auch im Exodus begleitet hat, ist da. Und er wird es auch bleiben: «Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt» (Mt 28,20).

Mit Matthäus im Gespräch

Jeder Christ, der diese Speisungserzählung liest, muss bei der Art und Weise, wie von Jesu Teilen des Brotes erzählt wird, an den sogenannten «Einsetzungsbericht» der Eucharistie denken: «Er nahm die (…) Brote (…), blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis, brach die Brote und gab sie den Jüngern» (vgl. Mt 26,26; vgl. 1 Kor 11,23–25). Und wahrscheinlich ging es bereits den ersten christlichen Leserinnen und Lesern des Matthäus-evangeliums so. Was dabei gerne vergessen wird: Was Jesus da tut, ist nichts anderes, als die Beraka zu sprechen, den Segen des jüdischen Hausherrn oder Gastgebers über die Speisen beim Sabbat und an Pessach bis heute: «Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der das Brot aus der Erde wachsen lässt.» Wenn Jesus hier also den Menschen, die ihm in die Wüste nachgefolgt sind, das Brot bricht, dann tut er das in einer langen Tradition seit den Wüstenerfahrungen der Exodusgruppe, die dort ebenfalls wunderbar gespeist wurde. Und er tut dies in der Tradition des Elija, welcher die arme Witwe von Sarepta wunderbar versorgte, und des Elischa, der mit zwanzig Broten hundert Männer so sättigte, dass sogar noch etwas übrig blieb. Und nicht zu vergessen die vielen Mahlgemeinschaften, die für Jesus so typisch waren, dass sie ihm sogar den Ruf eines «Fressers und Säufers» einbrachten (Mt 11,19).

Auf einen scheinbaren Widerspruch in unserer Geschichte möchte ich zum Schluss noch anfügen: Wenn bisher immer von der «Wüste» die Rede war, wie kann Jesus die Menschen dann auffordern, sich ins «Gras» (Mk 6,39 sogar: «ins grüne Gras») zu setzen? Kann es nicht sein, dass genau wie mit eremos nicht nur der «einsame Ort» gemeint ist, sondern die «Wüste», auch mit chortos nicht nur das «Gras» gemeint ist, sondern der «Garten» mitklingt wie noch im klassischen Griechisch (vgl. lat. hortus)? Dass die Wüste da zum Garten wird, wo das Wenige so geteilt wird, dass noch mehr als genug übrig bleibt? Die Schriften sind jedenfalls überzeugt davon, dass Gott die Wüste zum blühenden Garten machen kann: «Wenn aber der Geist aus der Höhe über uns ausgegossen wird, dann wird die Wüste zum Garten und der Garten wird zu einem Wald» (Jes 32,15). Wie sollte der, der nicht nur vom Heiligen Geist stammt (Mt 1,20), sondern auf den er auch herabgekommen ist (3,16), unsere Wüsten nicht in Gärten verwandeln können?
Literaturtipp

Hubert Frankemölle: Matthäus Kommentar 2. Düsseldorf 1997; Massimo Grilli / Cordula Langner: Das Matthäus-Evangelium. Ein Kommentar für die Praxis. Stuttgart 2010.