Wir beraten

Gottes Elternschaft ist Jesu Weisheit   

Ursula Rapp zum Evangelium am 14. Sonntag im Jahreskreis: Mt 11,25–30 SKZ 25/2011

Ein Evangelium über Jesu Gottesbeziehung, tiefes Vertrauen und Verbundenheit. Daraus folgt das Verständnis Jesu als ein Nachfolger, als ein Kind der Weisheit.

Was in den Schriften geschrieben steht

Das Evangelium beginnt mit den Worten «Zu jener Zeit». Wir überlesen das gern. Aber warum steht es da? Welche Zeit meint Matthäus? Lesen wir die Verse davor, so ist es die Zeit, in der Jesus Wunder wirkend und lehrend durch die Städte zog. Er ist vielen Menschen begegnet, aber diese Begegnungen scheinen für Jesus nicht ermutigend gewesen zu sein, die Städte haben sich nicht bekehrt. Jesus verwünscht diese Städte gerade in den Versen vor unserer Perikope. Auf diese klare und harte Ansage folgt ein Gebet, das damit eingeleitet wird, dass Jesus «antwortete», was die Einheitsübersetzung allerdings nicht wiedergibt. Jesus antwortet Gott. Aber Gott spricht hier nirgendwo. Jesu Gebet scheint eine Antwort zu sein auf das, was Gott hier geschehen lässt, nämlich, dass die Städte sich nicht bekehren. Und Jesus antwortet auf diesen Misserfolg mit einem Lob Gottes. Es ist in dem griechischen Wort «exhomologeo» ausgedrückt, das in vielen Psalmen steht, in denen Menschen klagen und um Hilfe rufen (z. B. in Psalm 6,6; 28,7; 30,5; 52,11). Dort ist es ein Lobpreis aus der Not heraus. Das klingt absurd. Wie kann man klagen und zugleich Gott loben? Die psalmenbetenden Menschen sind getragen von dem Vertrauen darauf, dass Gott grösser ist, grösser als die Not, grösser als alles, und deshalb auch alles zum Guten wenden kann. Der Lobpreis will das Vertrauen in diese Grösse und Macht Gottes nicht vergessen. Wenn Jesus in einer Zeit, in der die Städte sich nicht bekehren, in der er sein Scheitern spürt, Gott lobpreist und singt, dann schliesst er sich diesem Vertrauen der psalmenbetenden Menschen an. Er nimmt damit aber auch sein eigenes Wissen, Besserwissen, seine eigenen Mittel zurück und gibt seine Situation in Gottes Hand.

So betet Jesus auch weiter, indem er tiefer in seine Beziehung zu Gott geht und ihn als «Vater» bezeichnet. Damit greift er ein ersttestamentliches Gottesbild auf. Nicht nur für David ist Gott Vater (2 Sam 7,14; Ps 89,27), Gott ist Vater für alle Menschen, zumindest Israels, aber auch darüber hinaus (Ps 68,6; Jer 31,9; Mal 1,6; 2,10). Das Vaterbild für Gott betont einerseits den Aspekt der Autorität, vielmehr aber noch die sorgende, nährende und schützende Verantwortung eines Vaters. So heisst es in Jer 31,9: «Weinend kommen sie und tröstend geleite ich sie. Ich führe sie an wasserführende Bäche, auf einen ebenen Weg, wo sie nicht straucheln. Denn ich bin Israels Vater, und Efraim ist mein erstgeborener Sohn.» Auch in Hos 11,1–4 tritt Gott in elterlicher Liebe und Sorge für seinen Sohn Efraim auf. Im späten weisheitlichen Buch Jesus Sirach erzählt der Weise davon, wie Gott ihn aus Not herausgeführt hat mit den Worten: «Ich rief: Ewiger, mein Vater bist du, mein Gott, mein rettender Held. Verlass mich nicht am Tag der Not, am Tag der Vernichtung und Verwüstung!» (Sir 51,10). Dieses sorgende, helfende Vaterbild wird Jesus in den Mund gelegt, um seine Beziehung zu Gott zur Sprache zu bringen. Zu dieser Beziehung gehört auch ein inniges, tiefverwandtes Kennen: Nur Gott weiss, was mit seinen Kindern, was mit Jesus geschieht, warum dieser Fluch über die galiläischen Städte sein muss, warum diese Jesus nicht erkennen. Und nur die Kinder kennen diesen Gott wie einen Vater und das Geheimnis des Vertrauens, auch wenn Gott scheitern lässt. Als Vater wird er auch im Scheitern sorgend, bergend und helfend führen. Wer Gott nicht als Vater und Mutter kennt, versteht dieses Vertrauen nicht.

Darum weiss Jesus, denn er betet, dass dieses Wissen den Weisen und Einsichtigen verborgen ist. Geoffenbart hat Gott es den «Unmündigen» (Einheitsübersetzung). Die «Unmündigen» sind im wörtlichen Sinn als Kinder zu verstehen. Spielt Matthäus hier mit dem Vater-Kind-Begriff? Sind diese Unmündigen hier die Kinder Gottes? Aber wer sind dann die «Weisen und Einsichtigen»? Die «weisen und einsichtigen» Männer kennt genau mit diesen Worten noch das Buch Deuteronomium. Es sind jene Männer, die Mose als Führungsverantwortliche über die einzelnen Stämme einsetzen soll (Dtn 1,13.15). Weise und Einsichtige könnten also politisch Verantwortliche sein. Das könnte bereits ein Hinweis auf Mt 21,13 sein, wo es heisst, dass die «Unmündigen» die Wahrheit sprechen, weil sie im Gegensatz zu den Hohepriestern und Schriftgelehrten Jesus erkennen. Jesus grenzt also nicht unbedingt von wirklichen weisen und frommen Menschen ab, sondern möglicherweise von jenen politischen Verantwortlichen, die sich nicht auf ihn einlassen können oder wollen.

In den auf das Gebet folgenden Versen ruft Jesus die Menschen mit ihren schweren Lasten zu sich. Jesus verspricht, Ruhe zu verschaffen, und bietet sein eigenes Joch an, das leicht ist, offenbar leichter als die schwere Last der Menschen. Damit greift Jesus das Rufen der Frau Weisheit auf, die etwa in Sir 6,24.29 (in Sir 51,26 ruft der Weise unter dieses Joch) unter das Joch und die Stricke ihrer Weisung ruft. Das Bild des Joches beinhaltet den Aspekt des Richtungbewahrens. Den Tieren gibt das Joch vor, wo sie gehen sollen, aber es ist auch eine Einengung. Auch das Bild der Stricke und des Joches für die Lehre bei Jesus Sirach und auch hier im Matthäusevangelium deutet beide Aspekte an. Jesus weiss um diese Mühsal der Menschen und bietet sein Joch an. Er sagt von sich, er sei «gütig». Genauer übersetzt heisst es, dass er nicht Gewalt anwendet. Hier steht dasselbe Wort wie in Mt 5,5, wo die gewaltlosen Menschen seliggepriesen werden. Die Worte «gütig» und «demütig» bezeichnen in Zefania 3,12 das endzeitliche Volk in Jerusalem: «Und ich lasse in deiner Mitte übrig ein demütiges und armes Volk, das seine Zuflucht sucht beim Namen des Herrn.» Matthäus kreiert für Jesus keine neuen Bezeichnungen, sondern beschreibt sein Selbstverständnis mit ersttestamentlichen Frohbotschaften und als Verwirklichung von Weisheit, Frömmigkeit, Gewaltlosigkeit und Demut. Auch das Verschaffen von Ruhe erinnert an die Weisheit. Wieder ist im Sirachbuch zu lesen: «Denn schliesslich wirst du bei ihr [der Weisheit] Ruhe finden, sie wandelt sich dir in Freude» (6,28).

Mit Matthäus im Gespräch

Der Text vom sanften Joch Jesu hat mich in meiner Jugend sehr intensiv begleitet. Dass davor aber ein Fluch über die Städte Galiläas steht, war mir nicht bewusst. Der Zusammenhang ist in seiner Ernsthaftigkeit tiefreligiös und erschütternd zugleich. Jesu deutet sein Scheitern und die Bekehrungsmüdigkeit der Städte nicht auf sich selbst, seinen Erfolg oder Misserfolg hin, sondern er betet ganz einfach und geht in seine Beziehung zu Gott. Wie ein «religiöses Reflektieren». Er beginnt damit, Gott zu loben, besinnt sich auf Gottes Grösse, öffnet sich für die Grösse Gottes. Dann die Beziehung: Sie zeigt sich im ersttestamentlichen Bild der Eltern-Kind-Beziehung, und sie ist ein umfassendes gegenseitiges Kennen, ein Offenbaren, eine Vertrauensbeziehung. Aber das verstehen nur die, die Kinder sind. Die nur auf ihre eigene Macht bedacht sind, kommen da nicht mit.

Jesus wird auch wie ein Nachfolger der Weisheit beschrieben. Die Weisheit ruft immer wieder zu einem guten und gerechten Leben, sie ruft in die Beziehung zu Gott, in ein Leben nach Gottes Weisung. Sie will, dass die Menschen verstehen, wie sie gut leben können. Dieses Rufen nimmt Jesus hier auf. Er ruft gegen die Gewalt, gegen Unterordnung, aber zur Demut. In diesem Kontext kann das heissen: Jesus ruft zu diesem Vertrauen, auch wenn nichts klappt, nichts zu verstehen ist, die Städte verflucht werden. Gott zu loben, sich in Gottes Grösse zu stellen, das ist Weisheit.