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Der Gegensatz zur Furcht ist der Frieden   

Hans Rapp zum Evangelium an Pfingsten: Joh 20,19–23 SKZ 22/2011

Manche Menschen und manche Institutionen reagieren auf Krisensituationen mit einem Totstellreflex. Vermutlich stammt dieser Reflex aus der Urgeschichte der menschlichen Rasse. Er hat ihr offenbar beim Überleben in einer feindseligen und gefährlichen Welt geholfen. Ein Angreifer soll glauben, da sei nichts. Zumindest sei da kein gefährlicher Gegner. Von den Straussen wird in Karikatu-ren Ähnliches erzählt. Sie stecken ihre Köpfe in den Sand, weil sie dann glauben, auch die Angreifer sähen sie nicht. Innen ist die vermeintliche Sicherheit, aussen lauert der Feind. Am ersten Tag der Woche, von dem das heutige Pfingstevangelium erzählt, überlassen sich die Jünger und Jüngerinnen ihrem Totstellreflex. Um diesen Reflex aufzubrechen braucht es schon eine ziemlich heftige Intervention des Auferstandenen.

Was in den Schriften geschrieben steht

Die erste Erscheinung Jesu wird Maria von Magdala vor dem Grab Jesu zuteil. Ihre Begegnung mit Jesus ist der unmittelbare Kontext des Evangeliums von der Beauftragung der Jünger und Jüngerinnen. Johannes schildert diese erste Begegnung knapp. Im ersten Vers skizziert er den Schauplatz des Geschehens: «… als die Jünger aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen hatten …» (Joh 20,19). Die Szene ist bedrückend. Die Jüngerinnen und Jünger haben sich aus Furcht vor «den Juden» eingeschlossen. Erst mit dem Erscheinen Jesu finden sie aus dieser Erstarrung wieder heraus. Jesus setzt in der Perikope die Handlung und ist aktiv. Er wirkt auf zwei Ebenen: auf der Ebene des Handelns und auf der Ebene des Wortes.

Zunächst erscheint Jesu inmitten seiner Jünger und Jüngerinnen. Dann kommt das Zeigen seiner Wunden. Es löst die Erstarrung der Jünger und Jüngerinnen auf: «Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen», formuliert Joh 20,20. Die dritte Handlung Jesu ist das Anhauchen seiner Jünger. «Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!» (Joh 20,22). Das verweist auf den Anfang des Ersten Testaments. Johannes verwendet hier mit dem Verb emphysao das Verb, das die Schöpfungserzählung für die Belebung der Tonfigur verwendet, die der Schöpfergott geformt hatte und aus der das erste Menschenwesen wird, das die Bibel ganz einfach «Adam», «Mensch» nennt: «Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen» (Gen 2,7). In einer ähnlichen Bedeutung gebraucht auch das zweite Königsbuch in der Übersetzung der Septuaginta diese Form für den Propheten Elija in der Erzählung von der Witwe von Sarepta. 1 Kön 17,17 erzählt, dass der Sohn der Witwe, die den Propheten Elija versorgt hatte, erkrankt war. Seine «Krankheit verschlimmerte sich so, dass kein Atem (pneuma) mehr in ihm war». Nach der hebräischen Fassung bringt er den Knaben ins obere Stockwerk und streckt sich drei Mal über ihn aus. Die Septuaginta erzählt das Ereignis folgendermassen: «Und er atmete den Jungen drei Mal an und er rief Gott an und sagte: Herr! Mein Gott! Lass die Seele dieses Jungen zu sich zurückkommen» (1 Kön 17,21). Auch das Evangelium handelt von der Überwindung des Totstellreflexes der Jüngerinnen und Jünger durch eine (Neu-)Schöpfung. Der Heilige Geist erweckt die Jünger zum Leben und befähigt sie aufzutauen.

Der Handlungsebene entspricht auf der Wortebene die Verheissung des Friedens (20,19.21), die Sendung der Jüngerinnen und Jünger (20,21), die Zusage des Geistes (20,22) und die Verleihung der Vollmacht des Nachlassens der Sünden (20,23). Zweimal wünscht Jesus seinen Jüngern den Frieden. Der Friede Jesu ist der Gegensatz zur Furcht der Jünger vor den Juden. Diesen Gedanken lohnt es weiterzudenken. Die innere Wirklichkeit der Furcht der Jüngerinnen und Jünger korrespondiert damit, dass sie sich vor der Umwelt verschliessen. Diese innere und äussere Wirklichkeit gebiert Feindbilder. Hier sind es «die Juden». Die Verwendung des Begriffs «Juden» im Johannesevangelium hat in der Geschichte viel Unheil angerichtet und einem christlichen Antijudaismus immer wieder Nahrung gegeben. Betrachtet man die Verwendung dieses Begriffs bei Johannes näher, so zeigt sich, dass er nicht in einem einzigen Sinn verwendet wird. Er kann für (jüdische) Gegner Jesu stehen, für Judäer oder ganz neutral für Juden. Auch Jesus wird deutlich und unvoreingenommen als Jude identifiziert. Keinesfalls meint er das Judentum im heutigen Sinne, und keinesfalls kann man hier von einer pauschalen Judenfeindschaft sprechen. Im Gegenteil. Johannes atmet bis ins letzte den Geist des Ersten Testaments: Nicht nur die Belebung von Totem durch den Geist oder die Verheissung des Friedens gehören zum Kern des Ersten Testaments. Auch die Sendung und die Vergebung von Sünde sind wichtige Inhalte der hebräischen Bibel. Um die Vergebung von Sünde kreist ein grosser Teil der Texte der Tora, und das Kapitel über den jährlichen Tag der Sündenvergebung, den Jom Kippur (Lev 16), bildet den Mittelpunkt und das Herz der fünf Bücher Mose.

Im Gespräch mit Johannes

Die Furcht der Jüngerinnen und Jünger vor den Juden sticht für mich im Evangelium besonders in die Augen. Die Jünger haben sich selbst eingeschlossen. Sie sitzen wie in einem Grab. Sie haben sich aus Furcht vor den Juden verbarrikadiert. Erst das Handeln Jesu – er kommt, er zeigt seine Wunden, er wünscht den Frieden, er sendet, er haucht die Jüngerinnen und Jünger an – bringt Leben in die Gruppe, die sich ganz auf sich zurückgezogen und bereits ihre Feindbilder aufgebaut hat. Die Erstarrung der Jünger wird durch das Kommen Jesu und durch das Geschenk des Geistes überwunden. Diese Erzählung von Erstarrung und Auferstehung ist eine der Grunderzählungen von Judentum und Christentum. Erstarrung und die Lösung von Erstarrung kennen wohl alle Menschen aus ihrem persönlichen Leben und aus ihren Beziehungen zu anderen. Ich sehe auch im unbeirrten Festhalten am tagtäglichen Wahnsinn des Verkehrs und der Energieverschleuderung eine Erstarrung der Menschheit, die sich angesichts des drohenden Kollapses ganz einfach blind und taub stellt. Die Erzählung hat auch in der heutigen Zeit und der gegenwärtigen Situation des Christentums ihre Aktualität. Mir kommt vor, als ob sich viele Christinnen und Christen wieder eingeschlossen haben. Angst regiert. Aussen lauern die Feinde. Innen herrscht die Enge. Angst und Enge sind seit dem Beginn der Geschichte unserer Kirche grosse Versuchungen. Sie sind es auch heute. Wir sollten ihnen nicht nachgeben. Das Pfingstfest ist die Gelegenheit, uns auf den Geist zu besinnen, der uns geschenkt ist und der in Einzelnen und in der Kirche wirkt. Lassen wir uns auf den Geist ein, der uns noch immer auf unserem Weg durch die Geschichte begleitet und dessen lebendig machendes Wirken wir uns am Pfingstfest immer wieder von neuem vor Augen führen!