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Solidarität in Krisenzeiten   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 13. Sonntag im Jahreskreis: Mt 10,37–42 SKZ 23-24/2011

Die ersten Monate des Jahres 2011 haben bei vielen Menschen Zukunftsängste und vielleicht sogar Befürchtungen, das Weltende sei nahe, ausgelöst. Besonders die Natur- und Nuklearkatastrophe in Japan hat viele Menschen weltweit verunsichert. Aber auch die politischen Veränderungen in der arabischen Welt, die einerseits Hoffnungen wecken, deren Ausgang aber andrerseits noch unklar ist, geben zu Verunsicherung und Sorge Anlass.

In einem ähnlichen historischen Kontext stehen das Leben und die Worte Jesu: Jesus wirkte in den Jahren vor der Katastrophe des jüdisch-römischen Krieges, die in der Tempelzerstörung gipfelte, Matthäus schreibt kurz danach. Das Thema «Krisenzeit» taucht denn in den Evangelien immer wieder auf: So spricht Jesus unmittelbar vor unserer Passage von einer Zeit der Umwälzungen und Verfolgungen (Mt 10,17–25). Besonders eindrücklich schildert Matthäus diese schlimme Zeit aber in Kapitel 24,4–31. Doch diese Krisenzeit ist nicht das Ende, sie geht dem Kommen des Menschensohnes, einer Zeit des Friedens voraus (Mt 24,29–31).

Gerade in dieser Krisenzeit stellt Jesus in unserem Text seine Anhänger offenbar vor die Alternative, sich entweder für ihn oder für die Familie zu entscheiden. Diese Aussage ist befremdlich: Ausgerechnet in einer Krisenzeit fordert Jesus seine Anhänger auf, ihre Familie zu verlassen?

«Was in den Schriften geschrieben steht»

Ein Vergleich unserer Stelle mit der Parallelstelle bei Lukas zeigt, dass die beiden Evangelisten sich nicht einig sind, welche Familienmitglieder angesprochen sind: Lukas erwähnt die Eltern, die Frau, die Kinder sowie die Geschwister. Matthäus spricht nur von Eltern und Kindern. Könnte bereits dieser Unterschied darauf hinweisen, dass die Worte Jesu eines Kontextes bedürfen und nicht isoliert gelesen werden sollen? Mt 10,37–42 steht nicht nur im weiteren Umfeld des Matthäus-evangeliums, sondern auch im Austausch mit der hebräischen Bibel und anderen zeitgenössischen Schriften.

Ein Blick auf das gesamte Matthäusevangelium zeigt, dass der matthäische Jesus die Familie keineswegs ablehnt: Als ein Mann Jesus fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu er-langen, antwortet Jesus mit den zehn Geboten (Ex 20,12–16), zu denen ja auch das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, gehört: «Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote! Darauf fragte er (= der Mann) ihn: Welche? Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen; ehre Vater und Mutter!» (Mt 19,17-19). Ganz ähnlich weist Jesus auch auf das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, in Mt 15,4 hin. Für die hebräische Bibel und für Jesus, der aus ihr schöpfend lebt und spricht, hat die Achtung der Familie einen hohen Stellenwert.

Der Zerfall der Familie, das Misstrauen unter den Mitgliedern einer Familie und unter Freunden gelten bei den Propheten als Zeichen des Abfalles von Gott: «Verschwunden sind die Treuen im Land, kein Redlicher ist mehr unter den Menschen. Alle lauern auf Blut, einer macht Jagd auf den andern. (…) Noch der Beste unter ihnen ist wie eine Distel, der Redlichste ist schlimmer als Dornengestrüpp. Doch der Tag deiner Bestrafung kommt; dann werden alle bestürzt sein. Traut eurem Nachbarn nicht, verlasst euch nicht auf den Freund! Hüte deinen Mund vor der Frau in deinen Armen! Denn der Sohn verachtet den Vater, die Tochter stellt sich gegen die Mutter, die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter; jeder hat die eigenen Hausgenossen zum Feind» (Mi 7,2–7).

Doch die hebräische Bibel betont nicht nur das Gebot, Vater und Mutter zu ehren bzw. für seine Kinder zu sorgen, sie berichtet auch von zahlreichen familiären Krisen: Gleich nach dem Schöpfungsbericht lesen wir vom ersten familiären Drama, dem Mord Abels durch seinen Bruder Kain (Gen 4). An weiteren Beispielen mangelt es nicht: Abraham jagte seinen eigenen Sohn Ismael in die Wüste (Gen 21,8–21), Jakob betrog nicht nur seinen Bruder Esau, sondern auch seinen Vater Isaak (Gen 27). Später bevorzugte Jakob seinen Sohn Josef, woraufhin dieser von seinen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft wurde (Gen 37). Auch die Beziehungen zwischen Mann und Frau werden häufig als spannungsgeladen beschrieben: Bereits das erste Menschenpaar hatte mit Meinungsverschiedenheiten zu kämpfen (Gen 3), und die Ehen der Erzväter und Erzmütter verliefen nicht nur harmonisch. Hiobs Frau sieht keinen Sinn in Hiobs Frömmigkeit (Hi 2,9). Sogar zwischen den beiden Liebenden aus dem Hohenlied gibt es Unstimmigkeiten (Cant 5,6–7). Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Trotz der Wertschätzung der Familie widerspiegelt die hebräische Bibel kein unrealistisches familiäres Ideal: Sie berichtet von Spannungen, Eifersucht, Rivalität, Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Familie.

Die Familie ist offenbar nicht einfach etwas Gutes an sich, sie kann auch einengen und Sorge und Engagement des Einzelnen auf einige wenige Blutsverwandte beschränken. Deshalb geht es in der hebräischen Bibel auch immer wieder um den Aufbruch aus dem gewohnten Rahmen der Familie: Der Mann verlässt Vater und Mutter, um mit seiner Frau eine neue Gemeinschaft zu gründen (Gen 2,24). Der vertriebene Ismael wird gerettet und gründet «in der Wüste» eine neue Familie (Gen 21,19–21). Jakob heiratet erst nach seinem Aufbruch von seinem Elternhaus (Gen 29). Hiob beginnt seinen «theologischen Weg» erst nach den verstörenden Worten seiner Frau (Hi 2,9). Übertriebener Familiensinn ohne diesen Mut zum Aufbruch, übertriebenes «Clan-Denken» gekoppelt mit Gleichgültigkeit den übrigen Menschen gegenüber schadet der Gemeinschaft. Aktuelle Beispiele aus der Politik des Nahen Ostens, Nordafrikas und von anderswo machen dies deutlich.

Auch Jesu Aussagen, wie sie bei Matthäus überliefert sind, bewegen sich in diesem Spannungsfeld zwischen Wertschätzung und Kritik der Familie.

Im Gespräch mit Matthäus

Doch was will Jesus mit seinen provozierenden Worten denn sagen? Jesus wählt an unserer Stelle besonders pointierte, vielleicht sogar überspitzte Worte. Wie der Prophet Micha an der oben zitierten Stelle, redet auch Jesus in einer Krisenzeit! Doch während für Micha der Zerfall der familiären Beziehungen ein Zeichen der Krise ist, wählt Jesus eine andere Perspektive. Jesus relativiert die Familienbande, um auf andere, zusätzliche Beziehungen hinzuweisen, die wichtig sind: «Und wer einem von diesen Kleinen auch nur einen Becher frisches Wasser zu trinken gibt, weil es ein Jünger ist – amen, ich sage euch: Er wird gewiss nicht um seinen Lohn kommen» (Mt 10,42).

Es geht nicht um ein «entweder die Familie oder die Jesus-Gemeinschaft», sondern um ein «Sowohl-als-auch»: In schwierigen Zeiten braucht es zusätzliche Solidarität, die Solidarität unter Familienmitgliedern, unter Menschen, die sich gut kennen, reicht nicht mehr aus, sondern gefragt sind Hilfsbereitschaft und Solidarität, die über die Grenzen der Familie, des Clans, der nationalen oder der religiösen Gemeinschaft hinausgehen!