Wir beraten

Um was es bei Johannes geht   

Hanspeter Ernst zum Evangelium an Fronleichnam: Joh 6,51 – 58 SKZ 23-24/2011

«Do schwetzt emol aine, wo sosch nie schwetzt!» höre ich heute noch, wenn ich an Fronleichnam denke. Es ist der nicht ganz jeder Freude entbehrende Kommentar eines Teilnehmers der Fronleichnamprozession. Es war heiss, und der Pfarrer, ein jugendlicher noch, schwitzte für alle gut sichtbar – trotz Baldachin. Das freute nicht nur den Kommentator. Es gehörte zu diesem Fest, an dem sich das ganze Dorf beteiligte, wie auch das Tantum ergo dazugehörte, das wir viermal singen mussten, weil es viermal den Segen mit dem allerheiligsten Altarssakrament gab. Für uns Kinder hatte dieses Lied einen Kultstatus. Nicht, weil die Melodie besonders schmissig war, sondern weil wir von normalen Sonntagsandachten her wussten, dass die Andacht nach diesem Lied ziemlich schnell zu Ende ging und nicht noch mit zusätzlichen Gebeten verlängert werden konnte. Und so sangen wir mit grösster Begeisterung «… dieser Bund wird ewig währen und der alte hat ein End …». Auf Lateinisch, das wir selbstverständlich nicht verstanden, versteht sich. Wenn die Prozession nach dem Segen sich wieder in Bewegung setzte, konnten aufmerksame Beobachterinnen und Beobachter mit grösster innerer Genugtuung feststellen, dass sich bei ganz gewissen Häusern der Vorhang leicht bewegte … Unsere reformierten Gschpänli beneideten uns um dieses Fest – und wir wussten: Ja, bei uns ist Jesus real präsent. Irgendwie scheint darin – ohne dass wir es wussten – etwas vom Ursprung dieses Festes auf, dem siegreichen Triumph über die Ketzer, welche die Transsubtantiation leugneten. Diese Lehre wurde vom Laterankonzil (1213–1215) verbindlich definiert. Und in diesem Umfeld vermehrten sich auch die Hostienwunder (Hostien, die bluten), die ihrerseits wiederum Anlass gaben für die Verfolgung von Juden und anderem Gesindel. Dass für eine solche Ansicht gerade das Johannes-Evangelium hinhalten musste, ist mehr als tragische Ironie der Geschichte.

Was in den Schriften geschrieben steht

Der Perikopentext ist Bestandteil der Brot-rede Jesu, die mit der Speisung der Fünftausend eröffnet wird. Sie ist die Bergpredigt des Johannes («Jesus aber stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern nieder» Joh 6,3.), durchtränkt mit Stoffen aus der Hebräischen Bibel, insbesonders aus der Geschichte des Auszugs der Israeliten aus Ägypten und dem Buch Daniel. Um nur einige Elemente als Hintergrund aufzuzählen: Mose, der allein auf den Berg geht und die Israeliten, die während der Zeit seiner Abwesenheit das Goldene Kalb verfertigen; das Manna-Wunder, die Wachteln; die Israeliten, die murren; die Menschensohn-Vision. Auffallend oft kommt «Ich bin» vor, der Name Gottes, wie er in Ex 3,14 genannt wird: «Ich bin es, das Brot des Lebens» (6,35.48.51), «Ich bin es, das Brot, das vom Himmel herabsteigt» (6,41). Daher lohnt es sich, nicht einfach «Ich bin das Brot des Lebens» zu lesen, sondern das «es» zu ergänzen, damit dieser Sachverhalt transparent ist. Jesus erfindet ja nicht einfach einen neuen Gott, und er ersetzt ihn auch nicht. Unzweideutig macht er seinen Kontrahenten klar, die ein Zeichen von ihm wollen, dass es nicht Mose war, der den Vätern in der Wüste das Manna gegeben hat, sondern Gott, und dass ebendieser Gott ihnen das wahre Brot jetzt gibt («Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel» 6,32). Wobei mit wahrem Brot nicht einfach eine metaphysische Eigenschaft gemeint ist, sondern ein Brot, das wirklich ist, weil es die Wirkkraft hat, den jetzigen Hunger zu stillen. Wenn Jesus sagt: «Ich bin es, das Brot des Lebens. Eure Väter assen in der Wüste das Manna und sind gestorben; dies ist das Brot, das absteigt vom Himmel, damit der, der von ihm isst, nicht mehr stirbt. Ich bin es, das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, lebt für die kommende Weltzeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben unter der Weltordnung» (6,48–51) (Übersetzung Tom Veerkamp),1 dann geht es nicht um eine Gegenüberstellung im antithetischen Sinne. Die Väter in der Wüste sind nicht gestorben, weil das Manna eine mindere Gabe ist, sondern weil sie den Worten Gottes, wie sie durch Mose kundgetan wurden, nicht gehorchten und sich weigerten, ins gelobte Land aufzubrechen (Dtn 2,14). Analog zum Manna der Wüstengeneration ist jetzt, in der Wüste Roms, Jesus das Brot, das vom Himmel herabkommt. Dieses Brot ist sein Fleisch. Und hier meldet sich der Protest. Wie kann Jesus sein Fleisch zu essen geben? Jesus klärt die Frage nicht. Im Gegenteil: Er provoziert. «Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr kein Leben in euch» (6,53). Das dürfte wohl in dem Sinne zu verstehen sein, dass man vorbehaltlos teilhat und teilnimmt am Leben des durch die Römer gekreuzigten Messias. Johannes unterstreicht diese unbedingte Teilhabe durch die Wortwahl: Es geht darum, das Fleisch zu kauen (trogon) (6,54), das Blut zu trinken. Auch wenn jeder dieser Ausdrücke metaphorisch verstanden werden will, die Redeweise ist stossend. Zwar darf man im Judentum Fleisch essen, aber das Blut selbst ist tabu. Auch wenn dies für uns heute nicht mehr schockierend klingt, so muss es doch in den Ohren der damaligen Menschen unerträglich getönt haben. In der Folge kommt es dann auch zur Spaltung der messianischen Bewegung. Jesus, der Gesandte Gottes, der aus dem Vater lebt, macht sich die Sache seines Vaters, des Gottes Israel, so zu eigen, dass er selbst zu dieser «Sache» wird (6,57). Und das ist sein Leben. Anteil an diesem Leben haben, die sich ebenfalls vorbehaltlos diesem Messias Jesus anvertrauen, indem sie sein Fleisch kauen und sein Blut trinken.

Mit Johannes im Gespräch

Die Brotrede des Johannes ist nicht so einfach zu verdauen. Gerade weil viele seiner Sätze nur zu leicht über die Lippen kommen, lohnt sich eine stotternde Lektüre. Johannes setzt sich mit seiner Zeit auseinander – und er macht es sich selbst und uns nicht leicht. Dies vor allem deshalb, weil er nicht in ein Jenseits abhebt: Diese Welt ist für ihn die Welt der herrschenden römischen Weltordnung, eine Welt, der er nichts Gutes abgewinnen kann. Die andere Welt ist der messianische Äon, also nicht einfach ein Jenseits. Wenn der Messias sein Fleisch zum Kauen und sein Blut zum Trinken gibt, so ist dies deshalb nicht einfach eine Speise für ein besseres Jenseits, sondern es ist die Nahrung hier, damit wir die Welt gestalten und verändern. Nur dann haben wir begriffen, dass die Speisung der Fünftausend, die als Vorspann der Brotrede Jesu dient, ein Zeichen ist. Die Menschen, die Jesus gesättigt hat, wollen ihn zum König machen. Er entzieht sich ihnen. Alles andere würde dazu führen, wieder ein neues Reich zu errichten. Zum Zeichen wird die Brotvermehrung erst, wenn sie neue Perspektiven eröffnet und wenn jene Mechanismen überwunden werden, die dauernd Unterdrückte produzieren. Sie wird zum Zeichen, wenn der «Ich bin» im Brot für alle Gegenwart ist.

Die Brotrede des Johannes hat die Menschen gespalten. Das müsste uns auch zu denken geben. Freilich hat diese Spaltung andere Gründe als die Spaltung, die am Fest Fronleichnam auch zur Sprache kommt. Man kann dogmatisch sehr heftig streiten über die Transsubstantiation. Aber bei diesen kirchlichen Streitereien geht es um die eigene Macht, um die Erhaltung der eigenen Vormachtstellung, weniger um das, um was es bei Johannes geht. Und darüber nachzudenken könnte gerade im Angesichte des
Brotes des Lebens nichts schaden.

Tom Veerkamp: Das Evangelium nach Johannes in kolometrischer Übersetzung, Texte und Kontexte 28 (2005); ders.: Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums. I. Teil: Johannes 1,1–10,21, Texte und Kontexte 29 (2006).