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Das «Messiasprojekt»   

Dieter Bauer zum Evangelium am 7. Sonntag der Osterzeit: Joh 17,1–11 SKZ 21/2011

Am 7. Sonntag der Osterzeit liest die Kirche einen Evangelienabschnitt aus der Johannespassion. Der Abschnitt mit den «Abschiedsreden» ist vom Evangelisten da eingeordnet worden, wo die anderen Evangelien vom Gebetsringen Jesu in Getsemani erzählen: nach dem letzten Mahl und vor der Gefangennahme. Von der «Erschütterung Jesu» hat der Evangelist bereits im Zusammenhang der letzten öffentlichen Rede Jesu erzählt: «Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde?» (12,27). Jetzt aber, als seine Gefangennahme bevorsteht, lässt der Evangelist Jesus eine ausführliche Abschiedsrede an seine Jünger halten. Und diese wird abgeschlossen durch ein «Gebet zum Vater».

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Für die Kirche ist dieses «Abschiedsgebet» ein österlicher Text. Es wird gelesen als Vorhersage seiner «Erhöhung» und Rückkehr zum Vater. Das ist aber nur die literarische Funktion, die ihr der Verfasser des Evangeliums gibt. Ob der historische Jesus jemals so gesprochen hat, darf mit Recht bezweifelt werden. Was aber dem Johannesevangelisten wichtig ist, sind die Menschen, die zu seiner Zeit, gegen Ende des 1. Jahrhunderts, um ihren Glauben an den Messias ringen. Sie finden sich wieder in der Rolle der Jünger mit ihren Verlassenheitsängsten und den vielen Fragen, die ihre Erfahrungen mit Jesus ausgelöst haben. Und sie gilt es bei der Stange zu halten!

Die Strategie dieser Überzeugungsarbeit besteht (nicht nur) bei Johannes vor allem darin, die «Schriftgemässheit» dessen zu betonen, was Jesus getan und verkündet hat. Dass Jesus wirklich von Gott kam, konnte nur das «Wort Gottes» selbst bestätigen. Und – auch wenn das kaum einmal reflektiert wird: Tatsächlich ist kein einziges Wort des Johannesevangeliums verständlich ohne den Hintergrund der hebräischen Bibel, unseres «Alten Testaments». Das ist bei diesem «Abschiedsgebet» nicht anders.

Die «Stunde», die im Johannesevangelium seit Joh 2,4 angekündigt war, ist die Stunde seiner «Verherrlichung»: «Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird» (Joh 12,27). Dabei meint «Verherrlichung» den gesamten Prozess seines Leidens und Sterbens bis zur «Vollendung» im Tod (Joh 19,30).

Wenn der johanneische Jesus gleich zu Beginn seines Gebetes diese Stunde der «Verherrlichung des Sohnes» anspricht: «Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht. Denn du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt» (Joh 17,1 f.), dann ist das ein eindeutiger Bezug auf das erwartete Kommen des «Menschensohnes» im Danielbuch: «Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter» (Dan 7,13 f.).

Diese Hoffnung auf den «wahren Menschen» – dies ist mit dem aramäischen bar enasch eigentlich gemeint – keimte ursprünglich in einer Zeit der politischen und religiösen Oppression, wie sie nun auch die Johannesgemeinden erleben mussten. Über das «Leiden» musste man ihnen nichts erzählen – ihre Hoffnung richtete sich auf die «Wende»: wenn dann der «Mensch(ensohn)» endlich die bestialischen Weltherrscher ablösen würde (Dan 7,11 f.; vgl. Joh 12,31).

Dieser Menschensohn ist es, auf den das Johannesevangelium durchgehend Bezug nimmt (Joh 1,51; 3,13.14; 5,27 u. ö.). Er ist der, der «vom Himmel her» kommt und die Herrschaft von Gott übertragen bekommt, nachdem dieser – und nicht der Menschensohn! – Gericht gehalten hat. Dieses «Gericht» ist bei Johannes ebenfalls ein durchgehendes Thema. Da befindet er sich ganz im Einklang mit dem Schriftkanon der Propheten (Jos – Mal), in dem die Prophetenworte längst eschatologisiert worden sind und mit einem «Weltgericht» gerechnet wird, das zu einer Scheidung führt: innerhalb Israels und innerhalb der Völker! Ausschlaggebend für das Überleben wird sein, ob Menschen (innerhalb und ausserhalb Israels) sich an die Tora halten (Jos 1,7; Mal 3,22).

Genau diese Tora aber ist Jesus nicht nur in Person («das Wort»), sondern auch in seinem Handeln und seiner Verkündigung, in welcher er die Tora aktualisiert, um die Menschen so zu Gott, seinem Vater, führen: «Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast. Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und das Werk zu Ende geführt, das du mir aufgetragen hast» (Joh 17,3 f.).

Im Gespräch mit Johannes

Was uns, die wir in dogmatischen Kategorien von mehreren göttlichen Personen zu denken gewohnt sind, oft gar nicht mehr auffällt, ist der strikte Monotheismus dieser Johannestexte. Gott ist der Vater, und Jesus, der Messias (Christus), ist sein Gesandter! Sein Auftrag war die «Verherrlichung» des Vaters. Dieses Werk hat er nun zu Ende geführt. Allerdings mit furchtbaren Konsequenzen für sich selbst: In den Augen der meisten Menschen war er furchtbar gescheitert. Als politischer Aufrührer war er von den Römern hingerichtet worden! Und auch die Johannesgemeinde musste sich natürlich mit solchen Vorwürfen auseinandersetzen. Was blieb als Antwort auf das Offensichtliche? «Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war» (Joh 17,5). Die Rede von der «Verherrlichung» und vom «Sitzen zur Rechten des Vaters» (vgl. Ps 110,1) half der Nachfolgegemeinschaft Jesu, die Kluft zwischen dem offensichtlichen menschlichen Scheitern des Messias und der Erfahrung seiner Anwesenheit in der Gemeinde zu überbrücken. Dazu gehörte auch die Übernahme der biblischen Vorstellung von der Weisheit, die schon immer bei Gott war (Spr 8,22–30; vgl. Sir 24) und ihre Übertragung auf den Logos, das «Wort», das in die Welt kam (vgl. Joh 1,1–14).

Worum es in diesem «Messiasprojekt» aber eigentlich gegangen war, war die Hinführung der Menschen zu Gott, dem Vater: «Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart». Aber die Erfahrung Jesu und der Johannesgemeinde war natürlich auch, dass diese Botschaft nicht bei allen Menschen angekommen ist, sondern nur bei denen, «die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie gehörten dir und du hast sie mir gegeben.» Und wieder ist das Kriterium die Annahme, das Festhalten an der Tora: «Sie haben an deinem Wort festgehalten. Sie haben jetzt erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, gab ich ihnen, und sie haben sie angenommen» (Joh 17,6–8). Für diese Menschen nun tritt der Messias ein: «Für sie bitte ich; nicht für die Welt bitte ich, sondern für alle, die du mir gegeben hast; denn sie gehören dir» (Joh 17,9). Am Halten der Tora zeigt sich, ob wir zu Christus gehören.

Literaturtipp:

Ton Veerkamp: Der Abschied des Messias (Johannes 13–17), Texte und Kontexte 95/96 (3–4 / 2002).

Frank Crüsemann: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011, v. a. 288–314.