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Eine Bergtour mit Matthäus   

Peter Zürn zum Evangelium an Christi Himmelfahrt: Mt 28,16–20 SKZ 20/2011

Schönes Wetter vorausgesetzt, machen sicher viele an Himmelfahrt eine Bergtour. Das ist überaus biblisch.

«… was in der Schrift geschrieben steht»

«Die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, den Jesus ihnen genannt hatte» (Mt 28,16). Wann hatte Jesus diesen Berg genannt? Bei den Anweisungen an die Frauen am leeren Grab durch den Engel und den Auferstandenen selbst (28,7.10) war nur von Galiläa die Rede. Aber Berge spielen durchs ganze Matthäusevangelium eine herausragende und wegweisende Rolle. Am bekanntesten sind wohl der Berg der nach ihm benannten Predigt und der Berg der «Verklärung». In Mt 5,1 heisst es: «Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich und seine Jünger traten zu ihm.» Die Bergpredigt zeigt Jesus als einen Ausleger der Schrift, des Gesetzes und der Propheten (der dritte Teil der jüdischen Bibel, die Schriften, waren damals noch nicht endgültig kanonisiert), als einen, der Gesetz und Propheten nicht aufhebt, sondern erfüllt (Mt 5,17). Der Berg der Gesetzesauslegung verweist innerbiblisch auf den Berg der Gesetzesoffenbarung (Ex 19–24).

In Mt 17,1 heisst es: «Sechs Tage danach nahm Jesus Petrus, Jakobus und dessen Bruder Johannes beiseite und führte sie auf einen hohen Berg.» Hier begegnet Jesus Mose und Elija und tritt in ein Gespräch mit ihnen ein. Mose verkörpert das Gesetz (Tora, fünf Bücher Mose), Elija die Propheten. Auf dem Berg der Klärung klärt sich also, was die Bergpredigt schon programmatisch gezeigt hatte, dass Jesus nämlich im engen Gespräch mit der Schrift steht und dass dieser Jesus, der mit Mose und Elija spricht, Gottes geliebter Sohn ist, auf den die Jüngerinnen und Jünger hören sollen (17,5).

Zwei weitere Berge sind von Bedeutung: Mt 14,23 erzählt, dass Jesus «auf einen Berg [stieg], um in der Einsamkeit zu beten». Anschliessend machen die Jüngerinnen und Jünger auf dem See eine Erfahrung, die der Exoduserfahrung des Volkes Israel gleicht (vgl. die Motive See/Meer, das andere Ufer, der heftige Wind, das Untergehen, die Rettung mit starkem Arm …). In Mt 15,29–31 ist ein Berg Schauplatz von Heilungen. Die Passage endet: «Als die Menschen sahen, dass Stumme plötzlich redeten, Krüppel gesund wurden, Lahme gehen und Blinde sehen konnten, da waren sie erstaunt und priesen den Gott Israels.» Die Erfüllung prophetischer Verheissungen, die oftmals mit Zion, der Stadt auf dem Berg, verbunden sind, klingt an (vgl. Jes 35; Jes 61–62; Mi 4).

Jesus und die Elf treffen sich am Ende des Matthäusevangeliums also am Ende einer Bergtour. Die ganze Schrift, die ganze Geschichte Gottes mit dem Volk Israel, das ganze Matthäusevangelium wird von der Höhe des Berges herab vor unseren Augen entrollt. Mt zeigt sich von diesem Aussichtspunkt aus als eine grosse Unterweisung der Jüngerinnen und Jünger in der Schrift, dem Gesetz und den Propheten. Das wird noch deutlicher, wenn wir die manchmal allzu vertraute Bezeichnung «Jüngerinnen und Jünger» fallen lassen und mathätais mit «Schülerinnen und Schüler» übersetzen. Die Fremdheit dieses Ausdrucks ermöglicht dann auch ein neues Verständnis des Auftrags Jesu in Mt 28,19: «Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Schülerinnen und Schülern.» Das heisst doch wohl: Unterweist sie so, wie ich euch unterwiesen habe: im Gesetz und den Propheten. Macht sie zu Schülerinnen und Schülern der Tora, der Weisung des Gottes Israels zum Leben, auf dass diese Schrift nicht aufgehoben sei, sondern zu ihrer Erfüllung komme.

Damit wird ein weiteres Bergmotiv der Schrift aufgenommen: Zion, der Berg mit dem Haus Gottes als Ziel der verheissenen Völkerwallfahrt. Die Völker der Welt kommen, um Tora zu lernen: «Viele Nationen machen sich auf den Weg. Sie sagen: Kommt wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn  … Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn von Zion kommt die Weisung des Herrn, aus Jerusalem sein Wort» (Jes 2,3). Tora lernen ist selbst ein Gehen. Die Weisung Jesu «geht zu allen Völkern» (Mt 28,19), nimmt das auf, dreht aber die Bewegungsrichtung um.1

Mit Matthäus um Gespräch

Wie werden die Menschen beschrieben, die diese Weisung empfangen? Diese Frage können wir getrost auf uns beziehen, die Elf sind Identifikationsfiguren für die Nachfolgegemeinschaft Jesu. Ihre Reaktion ist spannungsreich. Einerseits fallen sie vor ihm nieder, andererseits sind sie hin- und hergerissen. Das scheint mir die bessere Übersetzung von edistasan als «zweifeln». Die Frauen, die dem Auferstandenen in Mt 28,9–10 schon vorher begegnet sind, fallen ebenso nieder und fürchten sich zugleich. Die meisten Übersetzungen differenzieren in 28,17 innerhalb der Elf und schreiben: «Einige aber hatten Zweifel.» Der griechische Text ist aber auch so zu verstehen, dass alle niederfallen und alle hin- und hergerissen sind. Wie auch immer. Die Nähe zum Auferstandenen, die Bereitschaft, ihn anzuerkennen und anzubeten (das schwingt im Ausdruck «niederfallen» mit), der gemeinsame Weg, die lange Schulung, all das kann nicht verhindern, dass es noch etwas Anderes gibt, das an den Frauen und den Elf reisst, das sie umtreibt und bewegt. Das Verb, distazein, das Matthäus in 28,17 braucht, gibt es nicht in der Septuaginta und auch nicht in den anderen Evangelien. Eine einzige Parallele ist Mt 14,22–33, wo ja ebenfalls ein Berg eine Rolle spielt und die Exodusgeschichte eingespielt wird (s. o.). Als die Jüngerinnen und Jünger Jesus auf dem See gehen sehen, folgt Petrus dem Ruf Jesu «Komm!» zunächst vertrauensvoll hinaus aufs Wasser. Angesichts des starken Windes bekommt er es mit der Angst zu tun und geht unter. Nachdem Jesus ihn gerettet hat, fragt er ihn: «Du Wenigvertrauender! Weswegen warst du hin- und hergerissen?» (14,31). Petrus war hin- und hergerissen zwischen dem Vertrauen in die Beziehung zu Jesus (und über Jesus zum Gott des Exodus) und den herrschenden Verhältnissen, dem Gegenwind der Pharaonen und Imperien dieser Welt. Die Chaosmacht Wasser, die Gott nach dem Schöpfungslied von Gen 1 doch in ihre Grenzen gewiesen hatte, droht zu siegen.

In Mt 28 sehen die Elf, die nicht mehr 12 sind und so die gebrochene Geschichte ihrer Gemeinschaft verkörpern und die Frauen, die zum Grab gekommen sind, beides: den Auferstandenen, vor dem sie niederfallen und gleichzeitig die Übermacht der herrschenden Verhältnisse, das Elend des Volkes Israel und anderer Völker. Das Vertrauen in den Gott des Lebens und die Verzweiflung an der realen Welt gehen Hand in Hand. Die Haltung der Schülerinnen und Schüler Jesu ist eine verwundete Hoffnung, weil sie nicht blind für die Realitäten ist, weil sie das Elend der Welt nicht ausblendet. Als hin- und hergerissene Hoffnung entgeht sie vielleicht der Gefahr, vertröstend, weltfremd oder zynisch zu sein. Der Gekreuzigte und Auferstandene beauftragt und sendet Menschen, die Gott vertrauen und vom Zustand der Welt betroffen sind.

1 Deutung der «Taufformel» Mt 28,19 im alttestamentlichen und frühjüdischen Kontext vgl. Tom Veerkamp: Das Ende der christlichen Mission. Matthäus 28,16–20, in: Texte und Kontexte 60 4/1993, 3–29.