Wir beraten

Jesus in der Nachfolge lebensspendender Weisheit   

Ursula Rapp zum Evangelium am 4. Sonntag der Osterzeit: Joh 10,1–10 SKZ 18-19/2011

Johannes führt uns in ein Gleichnis, das nicht leicht zu verstehen ist. Jesus wird als Tür zum Leben und Lebensvermittler verstanden. Ist das – gerade in der nachösterlichen Zeit – als Hinweis auf die Auferstehung und ewiges Leben zu verstehen? Das ist gut möglich, aber nicht der einzige Weg, sich dem Text anzunähern, Johannes schöpft aus dem Brunnen der israelitischen Tradition.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Anschliessend an die Schilderung der Unsicherheiten in der jüdischen Bevölkerung und die Fragen nach Jesu Berechtigung, die die Heilung des Blindgeborenen ausgelöst hat (Joh 9), erzählt Jesus in 10,10–5 ein Gleichnis und legt es in 10,6–10 aus. Das Gleichnis erzählt von Schafen und Menschen und wirft drei Aspekte auf: 1. Wer gelangt wie in den Schafstall, und was sagt das über dessen oder deren Berechtigung und Ansinnen aus? Entweder ist der Mensch Hirte oder Hirtin, oder er oder sie kommt mit diebischen Absichten. 2. Nur der Hirte oder die Hirtin kennt die Schafe beim Namen, 3. Nur die Stimme des Hirten oder der Hirtin kennen die Schafe und folgen ihr. Wir müssen uns nicht wundern, dass die Zuhörenden Jesus nicht verstanden haben. Wir wissen ja nicht einmal, wer das war: die Jüngerinnen und Jünger, die Apostel, eine grössere Anzahl an Interessierten und Hörlustigen? In Jesu Interpretation des Gleichnisses geschieht zunächst etwas Unerwartetes: Jesus erklärt nicht, wer die Schafe sind, wer die räuberischen Menschen und wer die Hirtin oder der Hirte, sondern er sagt: «Ich bin die Tür für die Schafe» (Vers  7). Das ist ein bisschen verwirrend: 1. geht es zunächst nicht darum, welche Menschen hineingehen und wer hinausgeht aus dem Stall, sondern um die Schafe, die hinausgehen, und 2. ist Jesus nicht der Hirte (das folgt dann erst nach dieser Perikope in Vers 11), sondern die Tür! Jesus erklärt auch weiter, dass, wer nicht durch ihn geht, den Schafen nichts Gutes will. Das sind alle, die vor ihm kamen. Damit können kaum Mose und die Prophetinnen und Propheten Israels gemeint sein. Vielmehr scheint es um falsche Prophetinnen und Propheten zu gehen. Jesus ist damit wieder bei den Fragen, die die Heilung des Blindgeborenen aufgeworfen hat: Wer hat Recht? Wer ist Hirte? Wer kommt durch die Tür? Jesus spricht ganz klar von seiner Autorität: Nur wer durch ihn als Tür geht, nur also, wer echter Hirte oder echte Hirtin ist, wird gerettet werden. Das Bild der Tür, an der sich der Lebensweg eines Menschen entscheidet, ist aus der Weisheitsliteratur Israels entnommen. Im Buch der Sprichwörter sagt Frau Weisheit, dass diejenigen Menschen glücklich sind, die an ihrer Tür wachen und auf sie hören. Das bedeutet, auf ihre Weisung zu hören. In Spr 8,32–35 heisst es: «So hört nun auf mich, ihr Kinder! 33 Hört auf die Unterweisung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind. 34 Wohl denen, die auf meinen Wegen bleiben. Wohl dem Menschen, der auf mich hört, der Tag für Tag an meinen Türen wacht, die Pfosten meiner Tore hütet. Denn wer mich findet, hat das Leben gefunden und Wohlgefallen erlangt beim EWIGEN.»

Was ist das Hören auf die Weisung, die Erziehung (hebräisch: musar) der Weisheit? Es ist letztlich die Weisung Gottes, die Tora, es ist auch die Weisung zur Gottesfurcht, also einer umfassenden und bedingungslosen Bindung an Gott. Die Weisheit ruft auch an den Toren der Stadt (Spr 8,3) dazu auf, ihre Lehre anzunehmen.

In Abhebung dazu heisst es von der Torheit in Spr 9,13–16: «Frau Torheit ist unruhig, einfältig und versteht nichts. 14 Sie sitzt an der Tür ihres Hauses auf einem Sessel auf den Höhen der Stadt 15 und ruft jene, die auf dem Weg vorüberziehen, die auf geraden Pfaden gehen: 16 Wer einfältig ist, kehre hier ein! …»

Wenn der Evangelist Jesus sagen lässt, er sei selbst die Tür, dann deutet er Jesus als Fortführenden weisheitlicher Lehre, als eine Art Erbe der Weisheit und ihrer Lehre. Er deutet an, dass Jesus nichts anderes ist als die Tora. Das entspricht den weisheitlichen Tendenzen, die das Johannesevangelium als Ganzes immer wieder zeigt. Schon der Prolog erinnert an weisheitliche Hymnen, wie wir sie aus Spr 8,1–31 oder Sir 24 kennen. Gerade im Buch Jesus Sirach wird auch die Weisheit selbst gleichgesetzt mit der Tora. In Sir 24,23, wo die Weisheit sagt, ihre Selbsterklärung sei Tora Gottes.

So wie Jesus von sich selbst sagt, dass er Leben in Überfluss gibt, spricht auch die Weisheit von Leben, Reichtum und Sättigung, die sie denen zukommen lässt, die auf sie hören und ihr nachfolgen (Spr 9,1.6; Sir 24,19, siehe auch Joh 6,26–40). Diese Lebensgabe ist das, worauf Jesus abzielt. Alles, was man tun muss dafür ist, durch ihn als Tür hindurchzugehen, seine Lehre anzunehmen, die ganz im Sinn der israelitischen Weisheit als Weisung Gottes (Tora) und Gottesfurcht zu verstehen ist.

Mit Johannes im Gespräch

Der Jesus des Johannesevangeliums wird oft als etwas abstrakt erfahren, und tatsächlich ist ja Jesu Selbstbezeichnung als «Tür» nicht einfach nachvollziehbar. Warum greift Johannes auf diese weisheitliche Tradition zurück? Die Weisheit hatte in Israel grosse Bedeutung. Sie war als gottähnliche weibliche Figur offensichtlich eine wichtige Ergänzung zum monotheistischen, «alleinstehenden» Gott Israels. Zugleich beinhaltete die weisheitliche Lebenspraxis in Israel eine Lebens- und Erfahrungsreflexion, die die Werte der Tora tief in die Welt, in die Schöpfung, in die Gesellschaft und letztlich das Leben und Empfinden der einzelnen Menschen einschrieb. Warum greift Johannes das auf? Das Johannesevangelium ist in einer Zeit heftiger Identitätssuche in der jüdischen Gesellschaft, zu der das Christentum noch immer zählte, entstanden. Die Frage, wer nun tatsächlich im Namen des Gottes Israels verkündete, was also wirklich jüdischer Glaube sei, war höchst virulent. Jesus stellt sich ganz klar gegen die, die stehlen, töten und vernichten, und hat dabei nicht einfach allgemeines Unrecht vor sich, sondern ganz konkret die Verfolgungs- und Konfliktsituation, in der sich die johanneische Gemeinde befindet. Es gibt die, die töten und stehlen, um sich selbst zu bereichern, die nicht das gute Leben der Menschen zum Ziel haben. Dieses findet sich nur bei Jesus und ist zugleich mit weiser Lebenspraxis und mit Tora als gerechter und lebensfördernder Ordnung gleichzusetzen. Johannes weist in der für ihn eigenen Sprache und Metaphorik darauf hin, dass das Leben in Fülle in der Tora zu finden ist und dass Jesus dies gelebt hat.

Trotz dieser eigentlich klaren Aussage gibt das Johannesevangelium keine endgültige Antwort. Wir müssen Andeutungen und Bilder zu verstehen suchen. Auch das ist weisheitlich: Die Lesenden werden zum Nachdenken aufgerufen, nicht zum Nachmachen. Es geht hier um das Reflektieren, wer oder was wirklich Leben schenkt, woher Leben kommt, was nährt. Jesus deutet auch an: Gut ist das, was die Schafe kennen. Gerade mit dem Kennen der Stimme weist Johannes sehr klar auf den israelitischen Glauben hin: die Stimme des Hirten, die Tora Gottes, die Stimme Gottes, kennen die Schafe.