Wir beraten

Sie erkannten ihn nicht   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 3. Sonntag der Osterzeit: Lk 24,13–35 SKZ 16-17/2011

Unmittelbar an den Bericht über den Besuch der Frauen am leeren Grab schliesst sich die Erzählung der Jünger auf dem Weg nach Emmaus an. Die beiden Erzählungen unterscheiden sich stark: Der Besuch am Grab ist höchst dramatisch: Der Schreck der Frauen über das leere Grab, die Erscheinung der beiden Männer in glänzenden Kleidern und der Unglauben der elf Jünger weisen auf das grosse Wunder hin. Bei Matthäus wird der Besuch der Frauen am leeren Grab noch dramatischer von kosmischen Erschütterungen begleitet beschrieben. Die Erzählung von Emmaus, die nur Lukas ausführlich schildert, ist demgegenüber eher alltäglich und unspektakulär: Zwei Männer diskutieren unterwegs niedergeschlagen über den Tod Jesu, über ihre zerschlagenen Hoff nungen, als ein dritter Mann, Jesus, sich unerkannt zu ihnen gesellt. Die beiden Jünger haben – ebenso wie die Apostel, aber anders als die Frauen – eine wahrhaft «lange Leitung», bis sie endlich begreifen

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Die beiden zunächst namenlosen Jünger sind unterwegs auf dem Weg von Jerusalem in ein heute nicht mehr genau identifi zierbares Dorf in der Nähe Jerusalems namens Emmaus. Warum sie diese Reise unternehmen, ist unklar: Haben sie in Emmaus etwas zu erledigen? Oder suchen sie Ablenkung nach den traumatischen Ereignissen? Der physische Weg scheint jedenfalls den Weg ihres langsamen Erkennens zu widerspiegeln. Als sich ein dritter Mann zu ihnen ge sellt, erkennen sie ihn nicht, und zwar offenbar nicht, weil Jesus sich in veränderter Gestalt zeigt, sondern weil sie ihn selber – wegen ihrer Trauer und Verzweifl ung? – nicht erkennen können. Als der Fremde sich nach dem Inhalt ihrer Gespräche erkundigt, erzählen sie ihm ziemlich ausführlich den Grund ihrer Niedergeschlagenheit. Ihre Rede wird von den meisten Kommentatoren als unvollkommene Wiedergabe des Wirkens Jesu be zeichnet, da die Jünger off enbar auch auf eine konkrete Erlösung Israels gehoff t hatten. Ihre enttäuschte Rede könnte jedoch auch als Kritik verstanden werden: Durch den Tod Jesu hat sich die Situation in Judäa keineswegs verbessert: Wir stehen ja in den spannungsgeladenen Jahren, die zum ersten jüdischen Aufstand gegen Rom und zur Zerstörung des Tempels führen. Die Enttäuschung der Jünger erinnert daran, dass diese konkrete politische Komponente nicht einfach ausgeblendet werden kann und Teil der noch ausstehenden vollkommenen Erlösung bleiben muss. Dennoch zeigt sich in ihrer Rekapitulation der Ereignisse, dass es für sie eigentlich schon einige «Indizien» gäbe, wieder Hoff – nung zu schöpfen: den Bericht der Frauen und das leere Grab. Doch all dies hat in ihnen off enbar noch keine hoff nungsvollen Zweifel geweckt. Auch die lange Auslegung Jesu vermag weder die Jünger zu trösten noch sie von Jesu wahrer Identität zu überzeugen. Erst die einfache Handlung des Brotbrechens macht ihnen klar, wen sie vor sich haben. Weder Berichte noch Auslegungen und andere Worte wirken so stark wie Taten. Der Erkennungsprozess braucht off enbar von beiden Seiten etwas Geduld: Die Jünger legen einen langen Weg zurück – sowohl physisch als auch geistig –, bis sie in der Lage sind, Jesus und damit das Wunder der Auferstehung zu erkennen! Diese Erkenntnis weckt in ihnen sogleich Tatendrang, sie erwachen aus ihrer Niedergeschlagenheit und brechen sofort auf, um über das Erlebte in Jerusalem zu berichten. Könnten diese Kraft und Energie helfen, die Erlösung voranzubringen? Wie verhält sich nun die ganze Emmaus- Passage zur hebräischen Bibel? Jesus selber stellt in unserer Passage sein Wirken, seinen Tod und seine Auferstehung in den Kontext der hebräischen Bibel, indem er seinen Reisebegleitern auslegt, «was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war» (Lk 24,27). Jesus selber sieht sein Wirken, seinen Tod und seine Auferstehung im Rahmen der hebräischen Bibel! Jegliche «Substitution», jegliches Ersetzen oder Überhöhen des «Alten» durch das «Neue» Testament greift daher daneben. Dies macht unsere Passage in den Worten Jesu unmissverständlich klar. Die Emmaus-Erzählung selbst erinnert an Passagen aus der hebräischen Bibel und aus der Septuaginta, der Bibel des griechischen Judentums und des frühen Christentums. Dem Wanderer, der mit seiner Familie und Tieren unterwegs ist, erscheint Gott bei Mamre in der Form von drei Männern, die ihm die Geburt Isaaks verkünden (Gen 18). Abraham und Sara erkennen nicht, dass es sich dabei um Engel handelt. Eine Erzählung über einen unerkannten göttlichen Begleiter findet sich auch im Buch Tobit, das in jüdischen Kreisen entstanden ist, jedoch nicht zur jüdischen Bibel gehört. Dort wird Tobit vom Erzengel Rafael – unerkannt – auf einer Reise begleitet. Rafael sorgt nicht nur für seine Sicherheit und sein Wohlbefi nden, sondern führt ihm auch seine ihm bestimmte Frau zu und heilt seinen kranken Vater. Erst ganz am Schluss – am Ende der Reise – erschliesst sich Tobit die Herkunft seines himmlischen Begleiters. All diese Erzählungen haben etwas sehr Tröstliches in sich: Gott ist auch da, wenn er nicht erkannt wird. Das Erkennen hat auf das göttliche Dasein, das Schützen und Begleiten keinen Einfl uss. Das Erkennen dieser göttlichen Präsenz setzt aber Kraft und Energie frei.

Mit Lukas im Gespräch

Etwas gewagter als die eben angeführten Einbettungen der Emmaus-Geschichte in die hebräische Bibel ist vielleicht der Vergleich mit der Exoduserzählung, welche Juden und Jüdinnen an Pessach, das dieses Jahr in die Woche vor Ostern fi el, erinnert und gefeiert haben: Wie den Israeliten auf ihrer vierzigjährigen Wüstenwanderung Gott erscheint, zeigt sich den Emmausjüngern unterwegs Gott. Das «Unterwegs-Sein» ist ist ein Zustand, der für die Begegnung mit Gott sensibilisiert, öff net und vorbereitet. Ziel des Weges ist in beiden Fällen – sowohl für die Israeliten als auch die Jünger – das Gelobte Land oder eben dessen Mittelpunkt, Jerusalem. Und noch eine kleine Ähnlichkeit zwischen den beiden Erzählungen: Die Identität der beiden Emmausjünger bleibt merkwürdig unklar, den Namen des einen, Kleophas, erfahren wir zwar im Laufe der Erzählung, können ihn aber dennoch nicht wirklich einordnen. Der andere bleibt anonym. Auch die Lokalisierung des Dorfes Emmaus bleibt trotz zahlreicher Versuche unklar. Warum erscheint Jesus nicht als Erstes dem «inneren Kreis», seinen namentlich bekannten Schülern und Anhängern, den zwölf Aposteln in Jerusalem? Diesen erscheint der Auferstandene erst nachher, nach den Frauen und nach den unbekannten Emmausgefährten (Lk 24, 36–53). Eine ähnliche «Anonymität» erscheint auch in der Pessach-Haggada, einer Zusammenstellung von biblischen und rabbinischen Erzählungen, Legenden und Liedern zum Auszug aus Ägypten, die an Pessach gelesen wird: Die Hauptfi gur des Exodus, Moses, wird in der Haggada überhaupt nicht erwähnt! Spätere Generationen erklären das so, dass damit jedem und jeder die Möglichkeit gegeben werden soll, selber den Exodus nachzuvollziehen und zu erleben. Ähnlich könnte man vielleicht sagen, dass die «Anonymität » und das unspektakuläre «Setting» der gesamten Emmaus-Erzählung jeden und jede dazu einlädt, daran teilzuhaben, Jesus auf seinem persönlichen Weg – wie langsam und umständlich auch immer – befreiend zu erkennen.