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Das Sakrament der Demut   

Hans Rapp zum Evangelium am Hohen Donnerstag: Joh 13,1–15 SKZ 14/2011

Die Fusswaschung am Gründonnerstag gehört zu den stärksten Zeichen, die ich in der Kirche kenne. Jesus, der Lehrer und der «Herr», wäscht seinen Schülern die Füsse. Er tut dies bewusst als «Beispiel». Johannes verwendet dafür den Begriff «hypodeigma» (Joh 13,15). Das Evangelium ist so plastisch und ausdrucksvoll, das Symbol der Fusswaschung ist in sich so sprechend, dass die Gefahr besteht, den Evangelientext zu «überlesen». Wir wissen ja, was drin steht. Kann aus seiner genauen Lektüre vor dem Hintergrund der ersttestamentlichen und jüdischen Tradition ein «Mehrwert» für die Verkündigung entstehen? Der unscheinbare Begriff des «Hypodeigmas» am Ende des Evangeliums kann uns vielleicht einen neuen Zugang schenken.

Wie es in den Schriften geschrieben steht

Der Begriff des «Hypodeigmas», des Beispiels, das Jesus seinen Jüngern durch die Fusswaschung gibt, führt uns direkt in das Erste Testament hinein. Das Wort wird in der biblischen Literatur nicht oft verwendet. Johannes gebraucht es nur an dieser Stelle. Ansonsten erscheint es im Neuen Testament im 2. Petrusbrief einmal und im Hebräerbrief dreimal. Auch in der griechischen Übersetzung des Ersten Testaments ist das Wort selten. Im Ezechielbuch bezeichnet der Begriff den Bauplan der Aussenmauer des Tempels (Ez 42,15). Er verweist auf die antike Architektursprache. Näher am Johannesevangelium ist dagegen die Verwendung des Begriffs im Sirachbuch und im zweiten Makkabäerbuch. Der geheimnisvolle Patriarch Henoch ist nach dem Sirachbuch ein Beispiel der Gotteserkenntnis: «Henoch ging seinen Weg mit dem Herrn und wurde entrückt: ein Beispiel der Gotteserkenntnis für alle Zeiten» (Sir 44,16). In eine ganz ähnliche Richtung geht die Verwendung des Begriffs im zweiten Makkabäerbuch. Dieser Text liefert eine frappierende Parallele zum Evangelium der Fusswaschung. Das sechste Kapitel des zweiten Makkabäerbuches, das vermutlich in der zweiten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts entstanden ist, beschreibt die Verfolgung treuer Jüdinnen und Juden durch den syrischen König Antiochos Epiphanes, der das Heiligtum in Jerusalem entweiht hatte und die Juden Palästinas zum Kaiserkult zwingen wollte. Als Zeichen dafür sollten die Menschen Judäas an den Opfermahlen zu Ehren des Kaisers an dessen Geburtstag teilnehmen (2 Makk 6,7.8). Der weitere Kontext dieses Kapitels deutet darauf hin, dass jedes äussere Zeichen eines Bekenntnisses zum Judentum mit
dem Tod geahndet wurde. Eines dieser Zeichen war die Beschneidung, eines die Einhaltung des Sabbats (2 Makk 6,11), ein anderes die Speisegesetze (2 Makk 6,18). Wer sich dem verweigerte, wurde nach dem Zeugnis des zweiten Makkabäerbuchs auf grausamste Weise hingerichtet: «Man führte nämlich zwei Frauen vor, die ihre Kinder beschnitten hatten. Darauf hängte man ihnen die Säuglinge an die Brüste, führte sie öffentlich in der Stadt umher und stürzte sie dann von der Mauer» (2 Makk 6,10). Der angesehene Schriftgelehrte Eleasar weigerte sich, am heidnischen Opfermahl teilzunehmen und Schweinefleisch zu essen. Das Kapitel beschreibt, dass die Überwacher des Ritus Eleasar anrieten, so zu tun, als ob er Schweinefleisch essen würde, weil sie ihn von früher her kannten und weil sie es gut mit ihm meinten (2 Makk 6,21–22). Der Text legt nahe, dass es sich dabei um Juden handelt, die sich in den Dienst der Repressionen des hellenistischen Herrschers gegen die Juden hatten nehmen lassen. Eleasar weigert sich und nimmt lieber den Tod auf sich, als dass er ein falsches Zeichen gegeben hätte. Denn um das Zeichen geht es in dieser Geschichte. Er ist bereit, das Martyrium auf sich zu nehmen. Diese Konsequenz verwandelt seine gutmeinenden Freunde in erbitterte Feinde: «Da schlug die Freundlichkeit, die ihm seine Begleiter eben noch erwiesen hatten, in Feindschaft um; denn was er gesagt hatte, hielten sie für Wahnsinn» (2 Makk 6,29). Das Makkabäerbuch lässt Eleasar sagen: «Der Jugend aber hinterlasse ich ein leuchtendes Beispiel, wie man mutig und mit Haltung für die ehrwürdigen und heiligen Gesetze eines schönen Todes stirbt. Nach diesen Worten ging er geradewegs zur Folterbank. Da schlug die Freundlichkeit, die ihm seine Begleiter eben noch erwiesen hatten, in Feindschaft um; denn was er gesagt hatte, hielten sie für Wahnsinn. Als man ihn zu Tod prügelte, sagte er stöhnend: Der Herr mit seiner heiligen Erkenntnis weiss, dass ich dem Tod hätte entrinnen können. Mein Körper leidet qualvoll unter den Schlägen, meine Seele aber erträgt sie mit Freuden, weil ich ihn fürchte. So starb er; durch seinen Tod hinterliess er nicht nur der Jugend, sondern den meisten aus dem Volk ein Beispiel für edle Gesinnung und ein Denkmal der Tugend» (2 Makk 6,28–31).

Ein «Hypodeigma» scheint in der Literatur des Zweiten Tempels etwas zu sein, das die ganze Existenz des Bezeugenden zum Ausdruck bringen will. Auch der Tod gehört zu dieser Beispielhaftigkeit dazu. Das Beispiel Henochs im «Lob der Väter» im Sirachbuch ist mit dem Hinübergehen Henochs aus der Welt in den Himmel, das heisst die Sphäre Gottes, verbunden. Eleasar setzt das Beispiel, indem er für die Treue zur Weisung Gottes in den Tod geht. Es geht ums Ganze!

Im Gespräch mit Johannes

Auch Johannes führt die Zeichenhandlung mit dem Hinweis auf den bevorstehenden Tod Jesu ein. «Es war vor dem Paschafest. Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen.» So lässt Johannes das Evangelium von der Fusswaschung in Joh 13,1 beginnen. Der Verweis auf den bevorstehenden Tod Jesu wird in Joh 13,3 wiederholt. Jesus weist die Jünger auch darauf hin, dass sie die Bedeutung dieses Zeichens nicht verstehen können (Joh 13,7). Erst sein Tod wird es ihnen erschliessen. Auch der Verweis auf den Verrat Judas’ (Joh 13,2.11) nimmt das Leiden und das Sterben Jesu am Kreuz vorweg. Der Verweis auf den Verräter Judas hat in der Erzählung von Eleasar seine Parallele in den vormaligen Freunden des Märtyrers, die sich von gut meinenden Bekannten zu Todfeinden und Todbringern verwandeln. Die Parallele zum Zweiten Makkabäerbuch ist frappierend. Die Fusswaschung ist nicht irgendein Zeichen, das Jesus seinen Schülerinnen und Schülern mitgibt, es ist etwas ganz Zentrales. Wenn man die intertextuellen Bezüge zwischen dem zweiten Makkabäerbuch und dem Johannesevangelium ernst nimmt, dann kommt der Fusswaschung bei Johannes die Bedeutung der Beschneidung, des Sabbats oder der Speisegesetze im Judentum zu. Vor allem das Gespräch zwischen Jesus und Petrus unterstreicht diese Bedeutung. Als die Reihe der Fusswaschung an Petrus kommt, will Petrus sich von Jesus nicht die Füsse waschen lassen, da die Fusswaschung das Verhältnis von Lehrer und Schüler, von oben und unten auf den Kopf stellt. Jesus beharrt darauf: «Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir» (Joh 13,8). Man könnte aus diesem Zusammenhang beinahe von einem Sakrament sprechen, das Jesus mit der Fusswaschung eingesetzt hat. Es hätte sich um das Sakrament der Demut gehandelt. Das Zeichen lebt in der Gründonnerstagsliturgie weiter. Zum Sakrament hat es das «Hypodeigma» nicht gebracht. Eigentlich schade!