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Gottes Wirken bei den Sehenden   

Winfried Bader zum Evangelium am 4. Fastensonntag: Joh 9,1–41 SKZ 12/2011

In der Sorge der Eltern des Blindgeborenen, bei einem Bekenntnis zu Christus aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden – aposynagogos in Joh 9,22 ist der terminus technicus für den Ausschluss aus der Gemeinde für kürzere oder längere Zeit –, spiegelt sich die historische Situation des ausgehenden 1.  Jh. wider, wo der neue Weg der Christusgläubigen und das traditionelle Judentum sich trennen. Das gesamte Kolorit der Erzählung, das uns in die Zeit Jesu versetzt, weiss von diesem Bruch noch nichts und ist bestimmt von einer typisch innerjüdischen Diskussion von Schriftzitaten um das rechte Verständnis für das Wirken Gottes in der Welt.

«... was in den Schriften geschrieben steht»

Die Eingangsfrage der Jünger greift eine Diskussion der Schrift auf. «Hat er selbst gesündigt?» (Joh 9,2) reflektiert den Standpunkt von Ezechiel, der sich auch bei Jeremia findet. «In jenen Tagen sagt man nicht mehr: Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Söhnen werden die Zähne stumpf. Nein, jeder stirbt nur für seine eigene Schuld; nur dem, der die sauren Trauben isst, werden die Zähne stumpf» (Jer 31,29–30, ähnlich Ez 18,2–4). «Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes» (Ez 18,20). Die andere Position, die die Jünger bedenken, «Oder haben seine Eltern gesündigt?» (Joh 9,2) stützt sich auf eine Aussage im Dekalog (Ex 20,5), die wiederholt wird, als Mose zum zweiten Mal die Tafeln erhält: «Gott verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation» (Ex 34,7). Die beiden Alternativen, die vermeintlich eine vollständige Aufzählung sein sollen – es kann so oder so sein, aber nicht anders – werden von Jesus zurückgewiesen. Es gibt noch andere Möglichkeiten, heisst die Antwort. Jesus argumentiert aber nicht mit Überlegungen aus der Weisheitsliteratur (Ijob, Kohelet), die in ausführlichen Reflexionen den Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen durchbricht. Für Jesus ist die alternative Antwort schlicht: die Möglichkeiten Gottes. «Gottes Wirken soll an ihm offenbar werden» (Joh 9,3). Jesus reiht sich mit dieser Antwort ein in die Reihe der Rabbinen zu der Auslegung genau dieser Stelle in Exodus, an der sich Gott mit den folgenden Worten dem Mose selbst offenbart: «YHWH, YHWH ist ein erbarmungsvoller und gnädiger Gott, langmütig und gross an Treue und Wahrheit. Er bewahrt Treue ins tausendste Geschlecht, Er hebt auf Schuld, Missetat und Sünde, ungestraft, ungestraft lässt Er nicht. Er gedenkt der Schuld der Väter bei den Söhnen und den Söhnen der Söhne, beim dritten und vierten Geschlecht» (Ex 34,6–7). Es ist nach dem Abfall Israels, da will Mose von Gott wissen, ob es für das Volk noch eine Zukunft mit Gott gibt. So ist diese Aussage Gottes nicht ein Einblick in die Seelenzustände Gottes, es kommt nicht darauf an, ob Gott Eigenschaften besitzt, sondern dass Gott Wirkungen hervorbringt. Die Rabbinen zählen dann – auf leicht unterschiedliche Weise – an dieser Stelle 13 Wirkungsweisen der Liebe und Zuwendung Gottes auf. Wenn Jesus vom Offenbarwerden des Wirkens Gottes spricht, dann heisst das, es werden sich einige dieser Wirkeigenschaften – erbarmungsvoll, gnädig, langmütig, treu, Schuld aufhebend, Gott sein – nun zeigen. Es geht nicht mehr um eine theoretische Frage nach der Herkunft des Leids, sondern um die Wirkung des liebenden Gottes in der konkreten Geschichte.

Wirkt nun Gott oder wirkt er nicht – das ist die Frage im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung.

Eigentlich ist es offensichtlich: «Noch nie hat jemand gehört, dass jemand die Augen eines Blinden geöffnet hat» (Joh 9,32). Damit ist es mit dem Psalm klar, hier wirkt Gott: «YHWH öffnet den Blinden die Augen» (Ps 146,8). Diesem naheliegenden Schluss kann man nur entgehen, wenn man die Tatsache, dass dieser Blinde sehen kann, leugnet. In den Redegängen geht es daher zuerst sehr ausführlich um diese Frage. Johannes als Autor kann uns in diesen Reden den Beweis führen, dass es keinen Zweifel gibt, es war so.

Für den wieder sehenden Mann ist damit auch der andere Schluss klar. Wenn jemand in der Lage ist, das Wirken Gottes auszuführen, dann ist er von Gott dazu bestimmt. Im ersten Lied vom Gottesknecht beruft ja Gott seinen Knecht genau dazu: «Ich habe dich geschaffen und dazu bestimmt, … blinde Augen zu öffnen» (Jes 42,6–7). Dieser Zusammenhang ist den Pharisäern natürlich sofort klar. Denn auf den ersten direkten Bericht des Manns über die Öffnung seiner Augen, antworten sie: «Dieser Mensch kann nicht von Gott sein, weil er den Sabbat nicht hält» (Joh 9,16). Es geht dabei nicht wirklich um die Sabbatdiskussion, wie sie an anderen Stellen mit Jesus geführt wird. Es geht um die Überprüfung der Frage, ob Gott gewirkt hat auf Anlass und Bitte dieses Jesus: «Wir wissen, dass Gott einen Sünder nicht erhört; wer aber Gott fürchtet und seinen Willen tut, den erhört er» (Joh 9,31). So argumentiert der Mann aus seiner Kenntnis der Schriften: «Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht. Eure Hände sind voll Blut» (Jes 1,15). Das ist die negative Erfahrung. Positiv gewendet. «Hätte ich Böses im Sinn gehabt, dann hätte YHWH mich nicht erhört. Gott aber hat mich erhört, hat auf mein dringendes Beten geachtet» (Ps 66,18). «Fern ist YHWH den Frevlern, doch das Gebet der Gerechten hört er» (Spr 15,29).

Die Tatsachen um das Wirken Gottes sind evident. In der Mitte der Erzählung, beim zweiten Redegang zwischen den Pharisäern und dem Mann, wird noch ein juristischer Versuch unternommen. Eine Aussage gilt nur dann als richtig, wenn sie von zweien identisch bezeugt wird bzw. von einem zweimal gleich erzählt wird. «Wie hat er dir die Augen geöffnet?» (Joh 9,26) wird zum zweiten Mal gefragt, wahrscheinlich in der Hoffnung auf eine abweichende Schilderung, die damit die Unzuverlässigkeit der Aussagen des Manns bewiesen hätte. Das einleitende «Gib Gott die Ehre!» (Joh 9,24) war auch keine Aufforderung zum Lobpreis (wie z. B. Ps 66,2; Ps 68,35 oder Jes 41,12), sondern eine Anspielung auf Jos 7,19, wo mit dieser Aufforderung Achan endlich sein Geständnis ablegen soll. Dieser Redegang endet dann auch in der Bestätigung: Mose ist es, der diese Wirkeigenschaften Gottes offenbart bekam und sie Israel weitererzählte (Joh 9,28–29). Der offensichtliche Schluss aus all den Tatsachen und Argumentationen über die Frage, wer ist Jesus, bleibt ihnen verborgen. Sie scheinen es zu erahnen in ihrer Frage: «Sind etwa auch wir blind?» (Joh 9,40).

Mit Johannes im Gespräch

Johannes hat in dieser reichen und ausführlichen Erzählung viele weitere seiner theologischen Fäden über das Offenbarwerden des Menschensohnes als Licht in der Welt verwoben. Es war interessant, mit ihm zusammen dieser einen kleinen Spur in die Heiligen Schriften Jesus nachzugehen.