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Wort und Tat   

Hanspeter Ernst zum Evangelium am 9. Sonntag im Jahreskreis: Mt 7,21–27, SKZ 8/2011

Worte und Taten können auseinanderklaffen. Das bestätigen nicht nur Reden von Politikerinnen und Politikern, von Papst und Kardinälen, von Pfarrern, Laientheologinnen und -theologen usw., das ist auch eine Erfahrung, die wohl alle in dieser oder jener Form schon gemacht haben. Wie oft werden von Kindern bestimmte Dinge verlangt, an die sich die Erwachsenen selbst nicht halten. Und Hand aufs Herz: Ist es nicht manchmal gut so? Sind es nicht gerade die Inkonsequenzen, die menschlich machen und die vor Sturheit bewahren? Kann es nicht manchmal schön sein, für einmal bestimmte Prinzipien ausser Kraft zu setzen? Und doch: Es macht wütend, wenn jemand das Gegenteil des Gesagten tut. Für sich selbst mag man dafür immer eine Ausrede finden. Aber ob für andere diese Ausrede auch überzeugend ist, ist nicht von selbst gegeben. Irgendwann wird man einem Menschen nicht mehr glauben, wenn er etwas verspricht. Irgendwann ist es mit der Glaubwürdigkeit fertig, wenn Reden und Tun zu weit auseinanderklaffen. Verlässliche Menschen sind solche, auf die sich jemand verlassen kann. Das nicht, weil sie vollkommen, sondern weil sie glaubwürdig, wahr sind. Und das heisst, dass sie erkennbar sind in dem und durch das, was sie tun.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Matthäus schliesst unmittelbar an die Seligpreisungen das Wort vom Salz der Erde (Ihr seid das Salz der Erde … Ihr seid das Licht der Welt … so sollen eure guten Taten leuchten, damit alle sie sehen und euren Vater im Himmel preisen) und von der bleibenden Gültigkeit der Tora an. Dieser Zusammenhang ist zu beachten. Salz der Erde und Licht der Welt erhalten ihre Kraft durch die Erfüllung der Tora. Jetzt, am Schluss der Bergpredigt, die diese Haltung konkretisiert, kommt das Thema noch einmal explizit zur Sprache: Da wird vor falschen Propheten gemahnt (Mt 7,15). So wie ein gesunder Baum gesunde Früchte, ein schlechter aber schlechte Früchte hervorbringt, so erkennt man einen Propheten an seinen Früchten. Also: guter Baum, gute Frucht, schlechter Baum, schlechte Frucht – oder: Wort und Tat stimmen überein. Dann fährt der Text jedoch weiter: «Nicht jeder, der zu mir sagt, Herr, Herr (will heissen, der an mich glaubt), wird ins Himmelreich hineinkommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut» (7,21). Jetzt wandelt sich die Szene: Sie wird zum Gericht (an jenem Tag). Es kommt die Rechtfertigung: Wir haben doch prophezeit in deinem Namen, wir haben Dämonen ausgetrieben in deinem Namen und wir haben in deinem Namen viele Wunder getan. Dreimal kommt «in deinem Namen» vor. Sind es nicht Taten, die da aufgezählt werden? Ein Wunder ist doch sichtbar, Dämonen austreiben ist doch sichtbar. Das alles im Namen Jesu. Das ist doch eine Einheit von Wort und Tat. Gegen eine solche Rechtfertigung gibt es wahrlich nichts einzuwenden. Aber die Antwort ist wie eine Faust aufs Auge: «Ich habe euch nie gekannt. Geht weg von mir, weil ihr die Tora übertreten habt» (7,23). Jesus zitiert hier Ps 6,9 in der griechischen Fassung. Diese lässt im Unterschied zum Text der Hebräischen Bibel, die einfach von «schlechten Taten» spricht, den Zusammenhang zum Übertreten der Tora deutlicher sehen. Warum dieses schreckliche Verdikt? Weil im Namen Jesu zu handeln ohne die Einhaltung der Tora Götzendienst sein kann.

Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, lohnt sich ein Blick in die Tora. In Ex 24,1–8 wird der Bundesschluss am Sinai beschrieben. Mose liest dem ganzen Volk das Bundesbuch vor, worauf alle einmütig antworten: «Alles, was der Ewige geredet hat, wollen wir tun, und wir wollen darauf hören» (V. 7). Weil das Tun vor dem Hören genannt wird, leiten die rabbinischen Gelehrten daraus ab, dass das Tun wichtiger sei als das Hören (vgl. mAv 1,17; bQid 40b). Aber kurz nach diesem Versprechen erzählt die Bibel die Geschichte mit dem goldenen Kalb, das die Israeliten anbeten (Ex 32,4). Sie verstossen somit gegen das erste Gebot (Ex 20,2–6). Sie haben auf sträfliche Weise ihr Versprechen verraten. Sie wollten nicht mehr mit Mose, der im Moment nicht unter ihnen weilte, den Weg in die Freiheit gehen. Stattdessen stellten sie einen Gott her, der in ihrer Mitte war, aber so, dass sie über seine Anwesenheit verfügten, einen Gott, der ihre Wünsche und ihre Sehnsüchte erfüllte, einen Gott auch, dem sie ihre Bitten und Klagen vorbringen konnten, ohne dass sie die Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen mussten. Das ist die Sünde der Israeliten. Ihr Tun widerspricht dem Gesagten. Weil das Tun verraten wurde, erhält das Hören eine unendlich wichtige Bedeutung: Damit die Israeliten das Richtige tun, müssen sie hören, denn das Hören führt zum Tun. Aber das Hören ersetzt nicht das Tun. Davon erzählt ein rabbinisches Gleichnis. Ein Knecht erhält von seinem König zwei kostbare Becher aus feinster Glasarbeit, auf die er achtgeben soll. Wie der Knecht in den Palast eintreten wollte, stolpert er über ein Kalb, das am Eingang des Palastes lag, und einer der beiden Becher zerbricht. Der Knecht muss es dem König melden und dieser gibt ihm den Befehl, jetzt erst recht auf den noch übrigen achtzugeben. «So sagte der Heilige, gelobt sei er: Zwei Becher habt ihr am Sinai gemischt: ‹Wir wollen tun und hören› (Ex 24,7). Ihr habt das ‹Wir wollen tun› zerbrochen. Ihr habt vor mir ein Kalb gemacht. Seid vorsichtig mit dem ‹Wir wollen hören›. Deshalb ‹Hört das Wort des Ewigen, Haus Jakob› (Jer 2,4)» (Shem R 27,9). Mit den zwei Bechern, die ihr gemischt habt, ist das Tun und das Hören gemeint. Entscheidend ist die Mischung. Dementsprechend lässt sich das eine nicht gegen das andere ausspielen.

Matthäus hat offensichtlich einen ähnlichen Sachverhalt im Kopf. Sich nur auf Jesus zu berufen, genügt nicht. Die Worte der Tora bleiben gültig. Sie bewahren vor Götzendienst, den man horribile dictu im Namen Jesu betreiben kann. Dem widerspricht das die Bergpredigt abschliessende Gleichnis vom Hausbau auf sicherem Grund nicht, auch wenn hier explizit von den Worten Jesu gesprochen wird, die zu hören und zu tun sind. Jesus legt die Worte der Tora aus. Er stellt sich nicht einfach über die Worte der Tora, weil Worte Gottes nicht göttlicher werden, wenn Gott einfach verdoppelt wird. Ihn kümmern Dogmatik und Rechtgläubigkeit wenig. Entscheidend ist die Praxis, die dem Wort der Tora entspricht.

Mit Matthäus im Gespräch

Habe ich Matthäus verstanden? Ich weiss es nicht. Ich habe mir Mühe gegeben und einige Kommentare studiert. Dabei ist mir aufgefallen, wie verschieden Matthäus gelesen wird, wie aber doch mit grosser Übereinstimmung vom matthäischen Jesus gesprochen wird. Das hat mich an David Flusser erinnert, der einen Wutausbruch hatte – und wer je einen solchen erlebt hat, weiss, wie eindrücklich die sein konnten –, als ein Teilnehmer in einem Seminar vom matthäischen Jesus gesprochen hat. «Das ist ein Tübinger Jesus», hat er geschrien. Ihm war schon klar, dass Matthäus anders von Jesus spricht als meinetwegen Lukas. Aber ebenso klar war für ihn, dass sowohl Matthäus wie Lukas von demselben Jesus sprechen und dass mit dem matthäischen Jesus eine Wissenschaftlichkeit nahegelegt wird, die es so nicht gibt. Denn auch der matthäische Jesus spricht die Sprache der jeweiligen Person, die sich auf ihn beruft. Diese Einsicht ist nicht umwerfend, aber sie führt mitten in unsere Problematik hinein: Das Haus, das wir heute bauen und das auf festem Grund stehen will, dieses Haus trägt unsere Handschrift. Will heissen: Ob durch das, was wir tun und wie wir leben, Gott sichtbar wird, und zwar so, dass er sich in unserem Tun und Leben erkennt, ist nicht schon dadurch gegeben, dass möglichst viel von ihm gesprochen wird.