Wir beraten

Die Berufung zur Vollkommenheit   

Hans Rapp zum Evangelium am 7. Sonntag im Jahreskreis: Mt 5,38–48, SKZ 6-7/2011

Jesus fordert seine Hörer/innen auf, vollkommen zu sein. Vollkommen wie der Vater im Himmel (Mt 4,48). Ist das realistisch? Ist eine solche Vorgabe gesund und vernünftig? Können und sollen wir uns als endliche Menschen ein solches Ideal verinnerlichen? Eine genaue Lektüre des Evangeliums auf dem Hintergrund des Ersten Testaments könnte interessante Aspekte freilegen.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Die sogenannten «Antithesen» werden in Mt 5,17 f. durch Aussagen Jesu eingeleitet, in denen er sich unumschränkt zur Tradition Israels bekennt: «Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.» Jesus gehört untrennbar in diese Tradition hinein. Auf diese Einleitung folgen die sechs Antithesen. Sie beginnen jeweils mit der Formulierung «Ihr habt gehört, dass (zu den Alten) gesagt worden ist» (Mt 5,21.27.33.38.43) oder «es ist gesagt worden …» (Mt 5,31). Dem fügt Jesus seine eigene Interpretation hinzu, die nicht unbedingt als Gegensatz wiedergegeben werden muss: «… und ich sage euch …» (Mt 5,22.28.32.34.39.44). Die Themen der vier ersten Antithesen sind Themen des Dekalogs. Es geht um das Töten (Mt 5,21; vgl. Ex 20,13; Dtn 5,17), die Ehe (Mt 5,27.31 vgl. Ex 20,14; Dtn 5,18) und um das Schwören (Mt 5,33 vgl. Ex 20,16; Dtn 5,20; Lev 19,12). Die beiden Antithesen des heutigen Evangeliums tanzen da etwas aus der Reihe. Sie handeln beide von der Gewalt und der Haltung, mit der die Nachfolger/innen Christi auf Gewalt reagieren. Beide Weisungen, die Jesus formuliert, sind tief in der Spiritualität des Ersten Testaments verankert.

«Auge für Auge und Zahn für Zahn» ist ein Zitat aus dem Bundesbuch, dem ältesten Gesetzeskorpus der hebräischen Bibel (Ex 21,24). Dem Bundesbuch ging es mit dieser Weisung darum, die Eskalation der Gewalt zu unterbrechen. Auge um Auge bedeutet dabei zunächst, dass für Gewalt ein eindeutiger Tarif festgesetzt wurde und sie rational verhandelbar und handhabbar werden sollte. Gegengewalt oder Entschädigung hatte sich an das Ausmass des angerichteten Schadens zu halten. Jesus liefert eine sehr eigenwillige Deutung des biblischen Verses. Er versteht ihn nicht als Aussage über das Gleichgewicht zwischen «meinem» Auge und dem des Aggressors, sondern er deutet sie so, dass sich «Auge um Auge» allein auf das Opfer der Aggression bezieht. Damit verweigert sich das Opfer der Gesetzmässigkeit der Gewalt. Das Opfer von Gewalt lässt sich seine Handlung – und seine Identität – nicht durch den Täter aufzwingen. Der Innsbrucker Systematiker Josef Niewiadomski formuliert pointiert, dass das Opfer sich in dieser Haltung nicht dazu zwingen lässt, durch die Täter gänzlich als Opfer definiert zu werden. Es hat eine Wahl und wird damit frei, die eigene Identität selbst zu definieren. Diese Haltung ist der ersttestamentlich-jüdischen Tradition keineswegs fremd. Im dritten Lied vom Gottesknecht heisst es in der griechischen Fassung: «Meinen Rücken habe ich gegeben dem Peitschenden, meine Wangen den Schlägen, mein Gesicht wandte ich nicht ab von den schändlichen Bespuckungen» (Jes 50,6). Wenn man diesen Bezug ernst nimmt, dann wird deutlich, dass die radikale Ethik der Gewaltlosigkeit Jesu keineswegs auf den individuellen Bereich beschränkt ist, sondern fest in einer Spiritualität der Gewaltlosigkeit des Volkes Israels gründet, wie sie in den Gottesknechtsliedern Jesajas sichtbar wird. Diese Spiritualität bezieht ihre Kraft aus der Hoffnung, dass es Gott ist, der die Gerechte oder den Gerechten erretten wird: «Doch der Herr wird mir helfen; darum werde ich nicht in Schande enden. Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel; ich weiss, dass ich nicht in Schande gerate» (Jes 50,7).

In der letzten Antithese wird eine weitere Quelle alttestamentlicher Spiritualität sichtbar. Es ist die Weisheit. Inhaltlich geht es um die Nächstenliebe, die Jesus in der letzten Konsequenz auch als Feindesliebe interpretiert. Nirgends im Ersten Testament findet sich der Imperativ, seine Feinde zu hassen. Eine Erbitterung über Menschen, die sich nicht an die Weisung Gottes halten, findet sich demgegenüber sehr oft. Sie werden meist als «Sünder» oder «Frevler» bezeichnet (vgl. Ps 1,5). Matthäus überrascht in der letzten Antithese mit seiner Begründung der Feindesliebe. Sie ist für ihn darin begründet, dass auch der Schöpfergott die Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt und es über Gerechte und Ungerechte regnen lässt. Die absolute Souveränität Gottes über seine Schöpfung ist ein oft wiederkehrendes Thema in den Weisheitsschriften. Ps 104,20–23 formuliert etwa: «Du sendest Finsternis, und es wird Nacht, dann regen sich alle Tiere des Waldes. Die jungen Löwen brüllen nach Beute, sie verlangen von Gott ihre Nahrung. Strahlt die Sonne dann auf, so schleichen sie heim und lagern sich in ihren Verstecken. Nun geht der Mensch hinaus an sein Tagwerk, an seine Arbeit bis zum Abend». Gott gibt allen seinen Geschöpfen das, was sie benötigen. Er unterscheidet nicht zwischen Raubtier und Mensch, zwischen Natur und Zivilisation. Am Schluss dieses Psalms findet sich ein Vers, der zu diesem Bild nicht ganz passen will: «Doch die Sünder sollen von der Erde verschwinden, / und es sollen keine Frevler mehr da sein» (Ps 104,35). Dieser Vers macht den Eindruck, als ob der Psalmist – oder vielleicht ein Bearbeiter? – über seine eigene theologische Kühnheit erschrocken war und diese wertfreie Souveränität Gottes zwar auf die Natur, nicht aber auf das Zusammenleben der Menschen angewandt wissen wollte. Jesus dagegen denkt in der letzten Antithese das Bild des souveränen und sorgenden Gottes konsequent zu Ende. Gott lässt die Sonne über Gerechten und Ungerechten scheinen.

Mit Matthäus im Gespräch

Das Evangelium und Psalm 104 befinden sich in einem spannenden Dialog. Für die Weisheitsschriften ist es klar, dass es einen guten Weg des Menschen gibt: die Tora zu befolgen und Weisheit zu suchen (Ps 1). Ihr liegt der Gedanken zu Grund, dass Gott die Guten und die Weisen durch ein gutes Leben belohnt und die Sünder und Frevler bestraft. Dass dieser Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen im realen Leben keineswegs die alleinige Realität ist, gehört auch zum Wissen der Weisheit. Das Buch Kohelet ist ein Bespiel für das Ringen eines weisheitlichen Schriftstellers mit der immer wiederkehrenden Erfahrung, dass die Sonne Gottes über Guten und Bösen aufgeht: «Es gibt gesetzestreue Menschen, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzesbrecher gehandelt; und es gibt Gesetzesbrecher, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzestreue gehandelt» (Koh 8,14). Das Buch Ijob ringt mit der Frage, weshalb gute Menschen von schweren Schicksalsschlägen getroffen werden können. Die Antithesen gehen einen eigenen, durchaus weisheitlich geprägten Weg: Jesus gibt die Weisung, auch die Frevler durch die Augen Gottes zu sehen und damit so zu sein, wie der himmlische Vater. Vielleicht hätte Jesus anstelle des Verfassers oder Redaktors von Psalm 104 den letzten Vers nicht hinzugefügt.