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Jesus, der Schriftgelehrte   

Dieter Bauer zum Evangelium am 6. Sonntag im Jahreskreis: Mt 5,17–37 SKZ 5/2011

Die sogenannte Bergpredigt (Mt 5–7) gehört zu den bekanntesten Texten der Bibel. Leider gehört sie auch zu den am meisten missverstandenen, muss sie doch oft als Beleg für die Meinung herhalten, Jesus habe sie im Sinne einer Ablösung des «Alten Testaments» gesprochen. Das Gegenteil ist der Fall!

Ausnahmsweise möchte ich dieses Mal eine Kürzung der Evangelienlesung vorschlagen: Mt 5,17–26. Es gibt zwar bereits den Vorschlag einer «Auswahl» (5,20–22a.27–28.33–34a.37), aber diese macht so zerstückelt keinen Sinn. Der vollständige Evangelientext ist meines Erachtens aber zu lang bzw. beinhaltet zu viele verschiedene Themen.

Matthäus und Jesus im Gespräch mit den Schriften

Schon der Jesus des Matthäusevangeliums musste gegen ein Missverständnis angehen: «Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen» (Mt 5,17). Dass es Jesus nicht um ein Aufheben der biblischen Tradition geht, versteht jeder. Was aber heisst dann «erfüllen»?

Beim Stichwort «Erfüllung» verstehen ja viele bis heute, dass das sogenannte Alte Testament reine Verheissung sei, die dann im «Neuen Testament» ihre «Erfüllung» gefunden habe. Was aber meint Matthäus, wenn er von «Erfüllung» spricht?

Das erste Wort, das Jesus im Matthäusevangelium spricht, sagt er zu Johannes: «Nur so können wir [d. i. Johannes und Jesus] die Gerechtigkeit [die Gott fordert] ganz erfüllen» (3,15). Es geht für Jesus also darum, dass sein Reden und Tun mit dem Willen Gottes übereinstimmen. In seinem Reden und Handeln «erfüllt» Jesus den Willen Gottes (6,10; 26,43) und verhält sich «schriftgemäss» – wie Gott in seinem Handeln an ihm (1,22; 2,15.17.23).

Deshalb ist der folgende Vers nur logisch: «Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist» (5,18). Die Tora (= «das Gesetz») und die prophetischen Schriften gelten bis zum kleinsten Buchstaben, dem hebräischen Jod (griechisch: jota). Nicht einmal ein kleiner Strich an einem Buchstaben wird verändert werden.

Im Hintergrund dieser Aussagen steht natürlich die Offenbarung vom Sinai und der Anspruch, dass jede prophetische Auslegung durch Mose legitimiert sein muss. So steht es als Abschluss der Tora: «Niemals wieder ist in Israel ein Prophet wie Mose aufgetreten. Ihn hat der Herr Auge in Auge berufen. Keiner ist ihm vergleichbar, wegen all der Zeichen und Wunder, die er in Ägypten im Auftrag des Herrn am Pharao, an seinem ganzen Hof und an seinem ganzen Land getan hat, wegen all der Beweise seiner starken Hand und wegen all der Furcht erregenden und grossen Taten, die Mose vor den Augen von ganz Israel vollbracht hat» (Dtn 34,10–12). Wenn der Prophet Jesus also alle Gerechtigkeit «erfüllt», legt er authentisch die Schrift aus – in Wort und Tat.

Mit seiner Schriftauslegung steht er aber natürlich in Konkurrenz mit anderen Schriftgelehrten, die Matthäus – nach eigenem Verständnis wohl selber Schriftgelehrter (Mt 13,52) – durchaus kritisch sieht: «Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird gross sein im Himmelreich» (5,19). Auch das ist nicht neu, steht doch im Buch Deuteronomium: «Ihr sollt auf den vollständigen Wortlaut dessen, worauf ich euch verpflichte, achten und euch daran halten. Ihr sollt nichts hinzufügen und nichts wegnehmen» (Dtn 13,1; vgl. Dtn 4,1 f.; Jer 26,2; Spr 30,6). Es geht also nicht nur um die (theoretische) «Achtung» der Gebote, sondern vor allem um das «Halten». Für Jesus ist das Tun der Lehre vorgeordnet! Deshalb auch die Reihenfolge in Mt 5,19: erst (selber) «halten», dann erst «halten lehren»! In Bezug auf die Schriftgelehrten und Pharisäer liegt für den matthäischen Jesus genau dort das Problem: «Die Schriftgelehrten und die Pharisäer haben sich auf den Stuhl des Mose gesetzt. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach dem, was sie tun; denn sie reden nur, tun selbst aber nicht, was sie sagen» (Mt 23,2 f.). Bestritten wird hier wohlgemerkt nicht die Lehrautorität der Schriftgelehrten. Was sie auf dem Stuhl des Mose in der Synagoge lehren, ist korrekt und zu befolgen. «Nur» mit der Praxis hapert es bei ihnen. Und da sollen sie von den Jüngerinnen und Jüngern Jesu übertroffen werden: «Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit grösser ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen» (Mt 5,20).

Wenn Jesus nun im Folgenden die Zehn Gebote auslegt, dann tut er dies im Rahmen jüdischer Auslegung der Tora im 1. Jahrhundert. Ein normatives Judentum gibt es zu dieser Zeit nicht. Schriftgelehrte aktualisieren die Tora aus eigener Souveränität und Vollmacht. Was «zu den Alten gesagt worden ist» – der Wortlaut der Tora – ist natürlich unbestritten. Worum es Jesus (und allen anderen Schriftgelehrten auch) geht, ist die Übertragung auf die jeweils konkreten Lebenssituationen der Hörerinnen und Hörer. Und da unterscheiden sich die Auslegungen. Deshalb: «Ich aber sage euch …», was so viel heissen soll wie: «Ich lege euch das so aus …». Es geht also gar nicht um «Anti-Thesen» – gar noch gegen die Tora –, sondern um eine Auslegung der Tora, wie sie auch andere Schriftgelehrte vornehmen.

Speziell an Jesus ist die Radikalität seiner Auslegung (Mt 5,22–26). Indem er an die Wurzeln der Gewalt geht, kann er zeigen, dass jeder Totschlag eine lange Vorgeschichte hat. Halten des Gebotes hiesse Achtsamkeit auf die kleinen Schläge, die ein verbales Feld der Gewalt aufbauen (Zorn, «Dummkopf», «(gottloser) Narr»). Ethik und «Erfüllung göttlichen Willens» beginnt im Vorfeld der Straftat. Und Religion wird missbraucht, wenn «Opfergaben zum Altar» gebracht werden, ohne dass vorher Versöhnung stattgefunden hat. Mit solchen konkreten Beispielen aus dem Alltag der Zuhörerinnen und Zuhörer nimmt Jesus jeder Selbstgerechtigkeit den Wind aus den Segeln. Niemand kann sich «fromm» auf den reinen Wortlaut der Tora zurückziehen nach dem Motto: «Ich habe ja keinen umgebracht.»

Jesuanische Ethik will vermeiden, dass es erst so weit kommen muss. Auch das folgende Beispiel geht genau in diese Richtung: «Schliess ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist» (5,25). Wieder geht Jesus an die Wurzel des Übels: Rechthaberei. Das gibt es ja einfach, dass man selbstgerecht davon überzeugt ist, im Recht zu sein. Jesus relativiert das: Beide, ich und mein Gegner, sind auf dem Weg zum Gericht. Und – bei nüchterner Betrachtung – wissen wir beide nicht, wie es ausgeht. Unter diesen Umständen wäre es schwachsinnig, auf ein eigenes Recht zu pochen.

Lesetipp
Hubert Frankemölle: Das Matthäusevangelium. Neu übersetzt und kommentiert. Stuttgart 2010.