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Versteckt euch nicht!   

Peter Zürn zum Evangelium am 5. Sonntag im Jahreskreis: Mt 5,13–16 SKZ 4/2011

«Ihr seid das Salz der Erde … ihr seid das Licht der Welt.» Das zweifache Bildwort aus der Bergpredigt des Matthäusevangeliums nimmt viele Textfäden aus dem Alten Testament auf.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

In Lev 2 wird die Darbringung von Speiseopfern für Gott beschrieben. Dabei spielt Salz eine besondere Rolle. «Jedes Speiseopfer sollst du salzen, und deinem Speiseopfer sollst du das Salz des Bundes deines Gottes nicht fehlen lassen. Jede deine Opfergaben sollst du mit Salz darbringen» (Lev 2,13). Der Ausdruck «Salz des Bundes» taucht noch einmal in Num 18,19 auf. Dort ist die Rede von einem «ewigen Salzbund». Salz kann Lebensmittel länger haltbar machen. Das wird auf den Bund Gottes mit dem Volk Israel übertragen. Ein Salzbund ist also ein lang anhaltender, ein ewiger Bund. Eine gesalzene Beziehung hält länger. Aber vielleicht geht es auch um die Würze der Beziehung. Der Text im Markusevangelium ist von dieser Vorstellung geprägt: «Denn jeder wird mit Feuer gesalzen werden. Das Salz ist etwas Gutes. Wenn das Salz die Kraft zum Salzen verliert, womit wollt ihr ihm seine Würze zurückgeben? Habt Salz in euch und haltet Frieden untereinander» (Mk 9,49). Ein würziger, kein schaler Friede. Die Apostelgeschichte nimmt das in etwas versteckter Weise auf, wenn sie die letzten Weisungen des Auferstandenen für die Jüngerinnen und Jünger mit dem griechischen Ausdruck synalizomenos beginnen lässt (1,4). Das geht zurück auf die Wurzel halizein, salzen. Fridolin Stier übersetzt «beim Umgang mit ihnen»; die Einheitsübersetzung «beim gemeinsamen Mahl». Ich gehe davon aus, dass nicht nur das Essen gesalzen war. Lesen Sie das Bildwort vom Salz der Erde doch mal mit all diesen Texten im Ohr.

Bei der Formulierung «Licht der Welt» (griechisch phos tou kosmou) klingt natürlich das biblische Schöpfungslied in Gen 1 an. «Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war» (1,3). Das Licht der Welt wird auch in Mt 5 ausdrücklich gutgeheissen. Es dient dazu, dass die guten Werke gesehen werden können und dadurch Gott gepriesen wird (Mt 5,16). Menschen, die gute Werke tun und dadurch Licht der Welt sind, setzen Gottes schöpferisches Wirken fort. Sie zeigen wie Gott die Welt im besten Licht. Die Verbindung mit dem Buch Genesis legt sich auch aus der Struktur des Matthäusevangeliums nahe. Mt lehnt sich ja eng an die Tora, die 5 Bücher Mose an, zum Beispiel in der Ausgestaltung von 5 grossen Jesusreden. Die Bergpredigt ist die erste dieser Redekompositionen und steht von daher in besonderer Verbindung zum 1. Buch Mose. Die Bildworte vom Salz der Erde und vom Licht der Welt entfalten die Botschaft des Schöpfungsliedes der Genesis: «Gott schuf also den Menschen als sein Bild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie» (Gen 1,27).

Über diese beiden roten Fäden hinaus bringt die Leseordnung einen weiteren innerbiblischen Bezug, indem sie die vier Matthäus-Verse mit vier Versen aus dem Evangelium nach Deutero-Jesaja (58,7–10) ins Gespräch bringt. Jesaja gibt – in einer Rede Gottes – das Gesprächsthema als Frage vor: «Ist das ein Fasten, wie ich es liebe, ein Tag, an dem man sich der Busse unterzieht: Wenn man den Kopf hängen lässt, so wie eine Binse sich neigt, wenn man sich mit Sack und Asche bedeckt?» (Jes 58,5). Nein, lautet die Antwort. Theo-logischerweise nicht. Was dem biblischen Gott gefällt, macht Menschen nicht kleiner als sie sind, erniedrigt sie nicht, sondern trägt dazu bei, dass sie sich zu ihrer vollen Grösse und Würde aufrichten. Fasten ist mit aufrechtem Gang verbunden. Fasten ist eine Auferstehungserfahrung. Fasten in diesem Sinne bedeutet: Fesseln lösen, mit Hungrigen das Brot brechen, Arme und Obdachlose ins Haus bringen, Nackte bekleiden. Das Matthäusevangelium knüpft daran an, wenn es in seinem grossen Gleichnis vom Weltgericht den Sohn des Menschen sprechen lässt: «Ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen» (Mt 25,35–36). In der Geschichte des Christentums haben sich viele Menschen in dieses Gespräch eingebracht, bis hin zu Bruder Klaus in seinem Meditationsbild von den Werken der Barmherzigkeit.

Dem Gott der Bibel gefällt es, wenn sich Menschen zu ihrer vollen Grösse und Würde aufrichten. Das gilt nicht nur für die eine Seite der hier beschriebenen Beziehung, für die Gefangenen, die Hungrigen und Durstigen, die Obdachlosen und Fremden, die Kranken und Nackten. Das gilt auch für die andere Seite der Beziehung. Für die, die so handeln, wie Jesaja und Matthäus es beschreiben. Die sind beiden sogar besonders wichtig. Auf sie richten sie die Scheinwerfer ihrer Texte: Ihr Licht wird hervorbrechen wie die Morgenröte (Jes 58,8), ihr Licht geht im Dunkeln auf (58,10), sie sind das Licht der Welt (Mt 5,14), ihr Licht wird vor den Menschen leuchten (5,16). Auch sie erheben sich in ihrem Tun zu ihrer vollen Grösse und Würde, und diese Grösse und Würde ist weithin und für alle sichtbar. Sie sind wie eine Stadt auf dem Berg, die nicht verborgen bleiben kann. Sie sind wie der Berg Zion, wie Jerusalem, die Stadt auf dem Berg, zu der einst alle Völker ziehen werden, um dort das Tun der Gerechtigkeit (oder in einem Wort: Tora) zu lernen. «Mache dich auf und werde Licht! … Völker werden zu deinem Licht gehen … Und dein Volk, sie alle werden Gerechte sein», singt Jesaja das Lied Gottes über Jerusalem (Auszüge aus Jes 60,1–22 nach der Neuen Zürcher Bibel).

Matthäus im Gespräch

Ich versetze mich in den Evangelisten Matthäus hinein. Vielleicht spricht er so: «Ihr Menschen des Volkes Israel, ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt. Ihr seid die Stadt auf dem Berg, die nicht verborgen bleiben kann. Lasst euer Licht leuchten für alle im Haus. Im Haus Israel und im Welthaus der gesamten Schöpfung. Bringt die Würze eurer besonderen Beziehung zu Gott in diese Welt ein. Bringt eure Beziehungen untereinander, die gesalzen sind von der Tora, der Wegweiserin für das Zusammenleben von befreiten Menschen in Gerechtigkeit und Solidarität, in die herrschende Weltordnung ein. Sie braucht es überlebensnotwendig. Zieht euch nicht zurück, grenzt euch nicht ab, auch wenn vieles dafür spricht. Auch wenn ihr von den herrschenden Völkern der Welt nicht viel Gutes erfahren habt. Auch wenn durch die Öffnung scheinbar die Gefahr grösser wird, eure besondere Identität zu verlieren. Ach, ich will nicht von uns und euch reden. Ich bin ein Teil von Israel. Für mich und für Jesaja, mit dem ich mich eng verbunden fühle, besteht die Identität Israels darin, Licht der Welt zu sein. Für uns liegt die Zukunft Israels darin, uns nicht zu verstecken, sondern uns sehen zu lassen. Wir können uns sehen lassen. Als Menschen mit aufrechtem Gang, als Menschen nach dem Herzen Gottes.»