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…zu sehen das Wort   

Katharina Schmocker Steiner zum Evangelium an Weihnachten am Morgen: Lk 2,15–20 SKZ 49/2010

Die Lesung von den Hirten, die nach Betlehem eilen, «um das Wort zu sehen, dass ihnen der Herr bekannt gemacht» hat, ist für den Weihnachtsmorgen vorgesehen. Es scheint, als wäre alles Wesentliche schon in der Nacht zuvor geschehen. Das Kind ist geboren, die Botschaft von seiner Bedeutung durch die Engel verkündet, das Licht ist durch die Kerzen im Gottesdienst und am Christbaum in die Dunkelheit eingebrochen, der Weihnachtsbraten ist gegessen, die Geschenke sind ausgepackt. Was will Lukas dem noch hinzufügen?

«...was in den Schriften steht»

Die Hirten sind nicht ohne Bedeutung in der Geschichte Israels. Als Moses weiss, dass er nicht selber in das verheissene Land einziehen wird, bittet er Gott: «Der Herr, der Gott des Lebensgeistes für alles Fleisch, wolle einen Mann setzen über die Gemeinde, der vor ihnen her aus- und eingeht …, damit die Gemeinde des Herrn nicht sei wie die Schafe ohne Hirten.» (Num 27,16 f.). Darauf beauftragt ihn Gott, Josua einzusetzen. Später wählt Gott als einen der bedeutendsten Könige Israels den Hirtenjungen David und lässt ihn dazu eigens von der Schafherde wegholen (1 Sam 16,7–13). Auch Jesus spricht in seinen Gleichnissen und Selbstaussagen (Mt 25,32; 26,31; Joh 10,2.11.12.14.16) gern vom Hirten, der für das Wohlbefinden und die Orientierung der Herde unverzichtbar ist.

Im Zusammenhang mit der Geburtsgeschichte Jesu scheinen die Hirten auf den ersten Blick allerdings nur als Berufsgattung und nicht im übertragenen Sinn in einer leitenden und bewahrenden Funktion angesprochen zu sein. Vermeintlich besteht ihre Bedeutung einfach darin, dass mit der Verkündigung von der Geburt des Retters bei ihnen begonnen wird, wie es ein Weihnachtslied aufnimmt: «Hirten erst Kund getan …». Sie verstehen die Botschaft, die der Engel verkündet («euangelizomai»), zunächst auch nicht als Auftrag zur Weiterverkündigung, sondern wollen lediglich «sehen dieses Wort, das geschehen ist, das der Herr uns erkennen liess («egnorisen» von: «gignoskein» – kennen, erkennen)». Doch als sie es sehen, lassen sie selbst erkennen («egnorisan») «über das Wort, das zu ihnen geredet wurde über dieses Kind». Die Engel verkünden («euangelizeïn»), loben («ainein») und sprechen («legeïn»), die Hirten lassen die Botschaft erkennen, wie der Herr sie diese erkennen liess, und vermitteln damit der «Herde» Orientierung, Geborgenheit, Hoffnung.

Als Zeichen für den «heute geborenen Retter, den gesalbten Herrn» (Lk 2,11), finden die Hirten wie angekündigt «den Säugling liegend in der Krippe» (V 16) – und zusätzlich, ja vorgängig, Maria und Josef. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieses Arrangement gerade im Lebenszusammenhang der Hirten eigentlich kein besonders hervorstechendes Merkmal ist, dass vielmehr das eine oder andere ihrer eigenen Kinder auch schon mal mangels anderer Möglichkeiten in eine Krippe gelegt wurde. Doch hinter der Deutung des Faktums als Zeichen steht der Tadel an Israel aus Jes 1,3: «Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk versteht’s nicht.» Die Volksfrömmigkeit hat Ochs und Esel tradiert, die bei der «Krippe» nicht mehr fehlen dürfen, doch deren Symbolkraft beschränkt sich meist auf die Romantik der Darstellung. Wer bedenkt dabei, dass sie für diejenigen stehen, die dem richtigen Weg zum richtigen Ziel folgen? Wer identifiziert sich bei der Weihnachtsgeschichte mit Ochs und Esel, die darin ja gar nicht vorkommen?

Nachdem die Hirten das Wort erkennen liessen – wie der Herr sie es erkennen liess –, kehren sie zurück, Gott verherrlichend und lobend – wie die Engel ihn lobten – über alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie ihnen gesagt wurde. Sie haben das Wort gesehen, was sie sozusagen in die Sphären der Engel erhebt.

Mit Lukas im Gespräch

«Und alle Hörenden staunten über das Gesprochene von den Hirten zu ihnen» (V 18). Wer um alles in der Welt sind die «alle»? Der Evangelist macht uns doch glauben, dass die junge Familie abgeschieden in einem Stall untergekommen ist, «weil nicht Platz war für sie in der Herberge» (Lk 2,7), und dass, wie erwähnt, den Hirten erst Kund getan wurde. Von Maria wird speziell erwähnt, dass sie «alle diese Worte bewahrte, indem sie sie in ihrem Herzen zusammenwarf» (V 19). Bleiben für die «alle» eigentlich nur Josef und das Kind – oder diejenigen, die durch das Evangelium die Botschaft der Hirten erst übermittelt bekommen haben, also unter anderem wir. Staunen wir noch über diese Worte, die über dieses Kind gesprochen wurden, oder fehlt uns dafür der Zugang mit den übrigen Sinnen? Gerade Lukas schildert, wie die Bedeutung Jesu von seinen Zeitgenossen/-genossinnen mit den Sinnen wahrgenommen wurde. Elisabeth spürt, wie das Kind in ihrem Leib hüpft, als Maria, die ihrerseits ihr Kind trägt, sie besucht (Lk 1,39–45), die Hirten, wie dargelegt, sehen und hören das Wort über dieses Kind, der greise Simeon nimmt es in die Arme und seine «Augen sehen das Heil» (Lk 2,25–32).

Als Jesus längst erwachsen ist, nach der Schilderung des Lukas kurz vor seiner Leidenszeit in Jerusalem, wurden zu ihm auch die Säuglinge gebracht, «damit er sie berühre» (Lk 18,15). Nur für Johannes im Leib seiner Mutter Elisabeth, für den in Windeln gewickelten Jesus in der Krippe und an dieser Stelle verwendet Lukas den Begriff Säugling – brephos (im Griechischen sächlich und daher offen für beide Geschlechter), der in den übrigen Evangelien überhaupt nicht vorkommt. Jesus wehrt den Tadel seiner Begleiter/Begleiterinnen ab mit der Aufforderung: «Lasst die Kinder kommen zu mir und hindert sie nicht, denn solcher ist das Königtum Gottes. Amen ich sage euch: Wer immer nicht aufnimmt das Königtum Gottes wie ein Kind, nicht kommt er hinein in es» (Lk 18,16 f.). Jesus wurde vom ungeborenen Johannes erkannt, und dessen Regung liess auch Elisabeth erkennen. Die Hirten haben im unscheinbaren Kind in der Krippe das Wort vom Retter gesehen und erkannt. Ihrem Vorbild folgend haben wir, solange Kinder geboren werden, die Möglichkeit, Gottes Reich mit allen Sinnen zu erfahren und so auch weiterhin das Wort nicht nur zu hören, sondern zu sehen und in die Arme zu nehmen.

Anmerkung der Redaktion: Das Evangelium von der Heiligen Nacht im Lesejahr A ist gleich wie im Lesejahr C (Lk 2,1–14). Wir verweisen dafür auf SKZ 177 (2009), Nr. 50, S. 863.