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Eine neue Urgeschichte   

Hans Rapp zum Evangelium am 4. Adventssonntag: Mt 1,18–24 SKZ 49/2010

Matthäus erzählt in seinem Evangelium Unerhörtes auf eine unverschämt lakonische Weise. Von einem verlobten Paar, von der jungen Frau, die schwanger ist, ohne mit ihrem Verlobten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Das könnte der Stoff für Dramen sein. Oft genug werden solche Situationen zum Tod junger Frauen geführt haben. In manchen Weltgegenden bedeutet eine uneheliche Schwangerschaft noch immer den Tod. Die Geschichte zeigt mit Joseph aber auch einen Mann, dem das Leben der jungen Frau wichtiger ist als die Ehre. Matthäus macht in seinem Evangelium deutlich, dass diese Geschichte die Welt verändert hat.

Wie es in den Schriften geschrieben steht

Wie konnte Matthäus seine Geschichte von der Schwangerschaft Marias so simpel und unschuldig erzählen? Eine junge Frau und ein Mann sind verlobt. Sie wird schwanger. Aber nicht von ihm. Nach der biblischen Gesetzgebung bedeutete das den Tod der Frau. Dtn 22,21 verlangt, dass ein Mädchen, das vor der Ehe mit einem anderen Mann Geschlechtsverkehr gehabt hat, zu steinigen ist. Man soll «das Mädchen hinausführen und vor die Tür ihres Vaterhauses bringen. Dann sollen die Männer ihrer Stadt sie steinigen und sie soll sterben». Das Buch Deuteronomium übernimmt ein Wertesystem, das durch das Gegensatzpaar von Schande und Ehre gekennzeichnet ist. Dieses Wertesystem existierte nicht nur in Israel, sondern im gesamten Mittelmeerraum. Maria bringt durch ihre illegitime Schwangerschaft Schande über das Volk und die Familie.

Der auf den ersten Blick so lapidare Eingangssatz in Mt 1,18 schreit förmlich nach Erklärung. Wie kam die Schwangerschaft zustande? Matthäus genügen drei Worte dafür. Sie war schwanger «aus dem heiligen Geist». Diese Formulierung ist keine wirkliche Erklärung. Sie wirft viel mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Sie besagt, dass diese Schwangerschaft aus dem Geist bzw. dem Willen Gottes begründet ist. Matthäus verwendet diese Formulierung zunächst als Hinweis an die Leser/innen bzw. seine Hörer/innen seines Textes. Auf der Ebene der Erzählung selbst weiss Joseph das nicht. Die Geschichte erzählt davon, dass der Mann seiner Verlobten nichts Böses will, dass er sich in aller Stille von ihr trennen wollte, weil er ein «gerechter» Mensch war. Erst ein Traum macht Joseph seine eigene Geschichte transparent und ermöglicht ihm weitere Handlungsmöglichkeiten.

In diesem Traum erscheint Joseph ein Engel Gottes. Es ist vielleicht nicht ganz zufällig, dass Matthäus Joseph ausgerechnet im Traum das Rätsel um die Schwangerschaft seiner Verlobten enthüllt. Im Buch Genesis wird die Geschichte eines anderen Josephs erzählt. Auch er wird mit Träumen in Verbindung gebracht (Gen 37,5–11). Als Traumdeuter ist er am ägyptischen Hof aufgestiegen (Gen 41,38–43). Die Botschaft des Engels ist dreifach. Der erste Teil besteht aus der Aufforderung an Joseph, sich nicht davor zu fürchten, Maria, seine Frau, zu sich zu nehmen. Im zweiten Teil sagt der Engel Joseph die Geburt eines Sohnes voraus, den er Jesus nennen sollte und der das Volk von seinen Sünden retten werde. Im dritten Teil begründet der Engel dieses Geschehen aus dem Buch Jesaja (Jes 7,14), das er aus der griechischen Übersetzung zitiert: «Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heisst übersetzt: Gott ist mit uns.» Dies ist das erste der Erfüllungszitate, die für das Matthäusevangelium charakteristisch sind und die in den Kindheitserzählungen gehäuft auftreten. Sie unterstreichen die Kontinuität zwischen den Schriften Israels und der Wirklichkeit Jesu, in der die Schriften des Ersten Testaments ihre Erfüllung finden.

Mit Matthäus im Gespräch

Der schillernde Evangeliumstext ist voller Anspielungen und Motive aus dem Ersten Testament. Dabei gerät man in Gefahr, ein kleines Signal am Anfang ausser Acht zu lassen. Bereits der Rahmen des Textes lehnt sich formal eng an das Buch Genesis an, wenn Matthäus formuiert: «Mit der Geburt Jesu war es so.» Hinter dem deutschen Wort «Geburt» steckt das griechische «Genesis». Damit ist aber weit mehr als der Vorgang der Geburt gemeint. Matthäus überschreibt sein Evangelium mit diesem Wort: «biblos geneseos yesou christou …». (Mt 1,1). Er zitiert damit zwei Verse aus dem Anfang des Buches Genesis. Gen 2,4 beschliesst den Schöpfungshymnus mit den Worten: «Das ist die Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde, als sie erschaffen wurden.» In Gen 5,1 wird mit ihnen die Geschlechterfolge der Menschheit ab Adam eingeleitet. Der griechische Begriff «genesis» gibt das hebräische Wort «Toledot», Geschlechterfolge, wieder. Solche Ahnenreihen sind ein wichtiges Element, durch das das Buch Genesis die Geschichte der Menschheit und die Geschichte Israels erzählt und deutet. Der hebräische Text strukturiert die Geschichte der Menschheit durch die Formulierung «’ele toledot …» – «dies sind die Geschlechterfolgen». Sie kann sowohl eine Aufzählung von Namen (Gen 11,27) als auch eine Familiengeschichte bezeichnen, wie etwa in Gen 37,2, wo die Josephserzählung durch diesen Satz eingeleitet wird. Wenn Matthäus sich an diese alttestamentliche Formulierung anlehnt, bedeutet das, dass das Buch Genesis den Verständnishintergrund, die Folie abgeben soll, vor dem er die Erzählung Jesu verstanden haben will. Damit verbunden definiert sie die Bedeutung dessen, was Matthäus uns da erzählt: Die Herkunft und die Geburt Jesu wird in den Worten der Entstehung der Schöpfung und der Menschheit erzählt. Was da mit Jesus geschah, ist für Matthäus wörtlich welt-bewegend.

Mt 1,18 spielt auf die Überschrift des Matthäusevangeliums an, wenn er für die Erzählung der Vorgeschichte Jesu wieder das Wort «genesis» verwendet. Statt mit «Geburt» wie in der Einheitsübersetzung sollte man das Wort besser mit «Ursprung» übersetzen. Er erzählt uns mit dem «Ursprung» Jesu eine neue Urgeschichte. Mich bewegt, dass dieser buchstäblich welt-bewegende und welt-historische Rahmen eine Geschichte einleitet, die durch das Begriffspaar Ehre und Schande charakterisiert wird. Denn um Ehre bzw. um die Schande geht es. Schande muss getilgt werden, die Ehre – des Mannes, der Familie, des Volks – muss erhalten bzw. wiederhergestellt werden. Die scheinbare (Alltags-)Geschichte, die Matthäus erzählt, ist nicht alltäglich, weil gesellschaftliche Grenzen durchbrochen werden. Joseph durchbricht diese Grenzen ganz beiläufig. Die Gerechtigkeit Josephs besteht darin, dass ihm das Leben der jungen Frau wichtiger ist als seine Ehre als Mann. Auch Gott durchbricht den Code von Ehre und Schande. Der Messias wird nicht in eine «intakte» Familie hineingeboren. Man würde heute von einer Patchwork-Familie sprechen. Das ist für Matthäus Programm – und für uns sollte es eine ständige Provokation sein.