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«O Tannenbaum» schon im Advent?   

Winfried Bader zum Evangelium am 1. Adventssonntag: Matthäus 24,37–44

Wenn bereits ab Mitte November «O Tannenbaum» aus den Lautsprechern der Kaufhäuser plärrt, sehnen viele sich nach dem «eigentlichen» Advent, warmes Kerzenlicht, idyllische Familienabende und vor Vorfreude auf Weihnachten leuchtende Kinderaugen. Und da in dieser Zeit auch ein bisschen Kirche sein muss, setzt man sich am Sonntag in den Gottesdienst und hört dann ausgerechnet dieses Evangelium, das so gar keine Idylle aufkommen lässt.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Die Evangeliumsperikope ist schwer zu fassen. Sie ist kein durchgängiger Text, sondern es sind viele – ich zähle sieben – kleine Abschnitte. In ganz verschiedenen Bildern von ganz unterschiedlicher Herkunft lassen sie die Gedanken kreisen.

Das erste Bild ist die Beschreibung kosmischer Ereignisse in Mt 24,29: Die Sonne verfinstert sich, der Mond erscheint nicht mehr, die Sterne fallen vom Himmel und die Kräfte des Himmels werden ins Wanken gebracht. Beim Propheten Joël findet sich dieses Bild der Sonnen-, Mond- und Sternenfinsternis (Joël 4,15) in der Rede vom Gericht über die Völker. Es geht um eine Entscheidung («Tal der Entscheidung», Joël 4,14), um eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Gruppen (über die Völker hält er Gericht (Joël 4,12); für sein Volk aber ist er Zuflucht (Joël 4,16) und um das Nahen des Tages YHWHs (Joël 4,14), zu dessen Begleiterscheinungen auch ein Zittern und Beben von Himmel und Erde gehört (Joël 2,10). Der Tag YHWHs ist nicht mehr Licht, sondern Finsternis (Amos 5,18). Dieser ungewisse Tag, von dem nirgends genau gesagt ist, wann er denn sein wird, geht auf eine geschichtliche Erfahrung zurück, den erfolgreichen Kampf Gideons gegen die Midianiter (Richter 7), den Jesaja kurz als «den Tag Midians» (Jes 9,3), als den Tag der Befreiung zitieren kann (und bei diesem Zitat – lesen Sie dort zwei Verse weiter! – stampfen wir endlich auf Weihnachten zu).

Die Gegenkräfte, die bei Matthäus durch die Passivkonstruktion ungenannt die Sterne vom Himmel fallen lassen und die Kräfte des Himmels ins Wanken geraten lassen, sind beim Propheten Daniel beschrieben. Es ist das grosse Horn des Ziegenbocks, das die Sterne vom Himmel stösst und die Wahrheit hinwegfegt (Daniel 8,10.12). Dort bei Daniel ist das Horn Symbol für politische Gegner und mächtige Gräuelkönige (Atnoius IV Epiphanes). Hat die Gemeinde des Matthäus ihre Verfolger im Blick?

Das zweite Bild ist das vom Menschensohn (Mt 24,30–31), das der Vision aus Daniel 7 entnommen ist. Die Posaunenengel und das Szenario der Himmelswolken wollen das Bild als Parusie deuten. So auch die breite Rezeption in der Kunstgeschichte. «Sein Reich geht niemals unter» (Dan 7,14) wäre aber auch eine hoffnungsvolle Zusage für das Reich Gottes, welches Jesus sicher verkündet hat. Ob er den Menschensohntitel wirklich selbst auf sich bezog, bleibt dagegen offen.

Das dritte Bild ist die Parabel vom Feigenbaum (Mt 24,32–33), in der Matthäus eine Naturerfahrung ohne explizite Anspielungen an seine Heilige Schrift für seine Botschaft heranzieht.

Das vierte Bild (Mt 24,34–35) beschreibt die Verkündigung Jesu dauerhafter als Himmel und Erde, spielt an auf die Naherwartung und unterstreicht Jesu Botschaft. «Das Reich Gottes ist nahe» (Mt 4,17).

Das fünfte Bild (Mt 24,37–39) ist breit ausgeführt. Es ist eine kreative Ausschmückung der Noach-Erzählung (Gen 6–7). Das sorglose Heiraten der Menschen wird in Genesis nicht erzählt. Das Hinwegraffen durch die Flut betont das Element des Gerichts aus der prophetischen Vorstellung des Tags YHWH. Es steht aber in eigenartigem Widerspruch zum vorhergehenden Bild, das «diese Generation nicht vergeht» (Mt 24,34). Das zeigt, dass Matthäus selbst uns einlädt, bei seinem Zitieren der Sintfluterzählung die ganze Erzählung mitzudenken, also auch den Bundesschluss (Gen 9). Er ist die Zusage an alle Menschen, dass sie nie mehr vernichtet werden. Gilt dies auch für das Endgericht?

Das sechste Bild zum gleichen Thema des unvorhergesehenen Eingreifens von aussen mitten im Alltag ist eine sorgsam konstruierte Doppelparabel (Mt 24,40–41). Auch wenn historisch die Aufteilung der Lebenswelten zwischen Mann und Frau auf Feld und Haus nicht durchgängig stimmt, will sie aussagen, dass als religiöse Wesen alle Menschen, Mann und Frau, gleich gefordert sind. Die Alternativen zurückgelassen oder entrückt (darf man hier an die Entrückung von Henoch in Gen 5,24 und Elija in 2 Kön 2,11 denken?) werden ohne Wertung, vor allem auch ohne eine direkte Forderung vorgestellt. Eine solche ist angedeutet durch die wörtliche Parallele «sie mahlen an der Mühle» zu Num 11,8. Dort in der Wüste murrte das Volk über die Eintönigkeit des Manna und wünschte sich zur Abwechslung des Speiseplans zurück nach Ägypten. Es ist die Gedankenlosigkeit über die allgemeine Fürsorge Gottes, die zur fehlenden Bereitschaft einer eigenen Veränderung für den Tag des Menschensohns führt.

Das siebte Bild handelt von der Wachsamkeit, das mit einem Appell für den Tag des Herrn eingeführt (Mt 24,42), mit einer Parabel erläutert (v43) und einem weiteren Appell abgeschlossen wird (v44). Die Botschaft Jesu von der Durchsetzung des Reichs Gottes wandelt sich durch die ersten Christen/Christinnen hin zur Frage der Person und des Wiederkommens des Verkünders (= Dieb).

Mit Matthäus im Gespräch

Die Komposition der Endzeitrede des Matthäus schillert zwischen der jesuanischen Verkündigung des Reich Gottes (= Himmelreich bei Matthäus) und seinem Anbrechen im Hier und Jetzt und der (Nah-)Erwartung der Gemeinde auf seine Wiederkunft. Besonders die Feigenbaumparabel hat diese Offenheit. Im griechischen Text ist im Schlusssatz (Mt 24,33) das Subjekt nicht genannt; es bleibt offen, wer oder was vor der Tür steht. Der Feigenbaum, wie der Weinstock ein Symbol der Freude und des Genusses, zeigt mit seinen süssen Früchten – die in der Parabel noch fehlen – die Auswirkung des Reichs Gottes, das schon versteckt da ist, aber dann wie der Feigenbaum, der letzte der Bäume, der vor dem Sommer seine Blätter bekommt, plötzlich hervorbricht. Der Feigenbaum selbst wird zum Lehrer «Lernt vom Feigenbaum» (Mt 24,32). Die Parabel richtet an Leser/innen den dreifachen Appell Lernen – Erkennen – Sehen, der in der Form Sehen – Erkennen – Handeln zum Leitbild der Jugendbewegungen im letzten Jahrhundert wurde.

Für uns im Norden ist ein Feigenbaum exotisch. Im Süden ist er nicht nur in Gärten weit verbreitet, sondern wächst sehr oft auch wild, so wie bei uns die Tannenbäume. Das Weihnachtslied von Ernst Anschütz aus dem Jahr 1824 paraphrasiert in der dritten Strophe die Parabel vom Feigenbaum – und wirft für uns nun ein ganz neues Licht auf die Musik in den Kaufhäusern:

«O Tannenbaum, o Tannenbaum,

dein Kleid will mich was lehren:

die Hoffnung und Beständigkeit

gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit!

O Tannenbaum, o Tannenbaum,

dein Kleid will mich was lehren.»