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Erwartung   

Ursula Rudnick zum Evangelium am 33. Sonntag im Jahreskreis: Lk 21,5–19 SKZ 43/2010

Das neue Kirchenjahr hat noch nicht begonnen, aber der Advent steht vor der Tür und mit ihm die Erwartung. Die Rede Jesu im Tempel entfaltet ein Szenarium der Zerstörung des Tempels, des Krieges und der Verfolgung, sowie der Ankunft des Menschensohnes (Lk 21,5–38). Die Rede Jesu erstreckt sich über den Predigttext hinaus, und es ist wichtig, sie in Gänze wahrzunehmen, vor allem auch mit der Verheissung am Ende: «Und dann werden sie den Menschen auf einer Wolke kommen sehen, mit Kraft und mit grossem Glanz: Wenn dies beginnt: Richtet euch auf und erhebt euren Kopf! Denn eure Befreiung ist nah.»

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Vor der Verheissung der Herrlichkeit verkündigt Jesus die Zerstörung des Tempels. Ausgangspunkt von Jesu langer Rede ist die Beobachtung nicht näher identifizierter Hörer/Hörerinnen, dass der Tempel mit «schönen Steinen und Weihegeschenken geschmückt sei».

Im Talmud heisst es über den herodianischen Tempel: «Wer den Bau des Herodes nie gesehen hat, der hat nie ein schönes Gebäude gesehen.» Von seiner Pracht berichten auch Tacitus, Philo von Alexandrien und Josephus in seinem Werk Der Jüdische Krieg: «Die äussere Gestalt des Tempels bot alles, das sowohl die Seele als auch das Auge des Beschauers in grosses Erstaunen versetzte. Denn der Tempel war überall mit massiven Goldplatten belegt, und mit Beginn des Sonnenaufgangs strahlte er einen ganz feurigen Glanz von sich aus, so dass die Beschauer, sogar wenn sie durchaus hinsehen wollten, ihre Augen wie von den Sonnenstrahlen abwenden mussten.» Ästhetische Kategorien reichen jedoch nicht aus, um die Bedeutung des Tempels zu erfassen. Denn der Tempel war bis zur Zerstörung durch die Römer 70 n. d. Z. der Wohnort Gottes. Er war der Ort der Begegnung mit Gott. Die Gebote im Tempel zu opfern, wurde als Ausdruck des göttlichen Willens verstanden. Neben den täglichen Opfern gab es Gaben, die im Rahmen der sich jährlich wiederholenden Wallfahrtsfeste, wie z. B. Pessach, geopfert wurden und die in bestimmten Fällen, wie z. B. beim Pessach-Lamm, gemeinschaftlich verspeist wurden.

Die Ankündigung der Zerstörung des Tempels ist eingebettet in ein grosses endzeitliches Panorama von Krieg und Verfolgung. «Dass Kriege und der Zerfall sozialer Ordnung zu den Charakteristika der Endzeit gehören, ist integraler Bestandteil eschatologischen Grundwissens im frühen Judentum», so Michael Wolter. Elemente dieser Bildwelt finden sich in 2 Chr 15,6, bei Jesaja (19,2), Joel (2,10) und Daniel (7,13). Die Ankündigung von sozialer Umwälzung, Krieg und Zerstörung ist verbunden mit der Mahnung vor falschen Propheten: «Seht zu, dass ihr nicht in die Irre geführt werdet.» Prophetentum und Pseudoprophetentum waren weit verbreitet. So berichtet z. B. auch Josephus von einem «ägyptischen Pseudopropheten», dem sich 30 000 Menschen angeschlossen hätten, die er aus der Wüste auf den Ölberg geführt habe. «So liess sich das elende Volk damals von Verführern und Betrügern, die sich fälschlicherweise als Gesandte Gottes ausgaben, beschwatzen, den deutlichen Zeichen aber, die die kommende Verwüstung im Voraus anzeigten, schenkten sie weder Beachtung noch Glauben …»

Die Katastrophe betrifft den ganzen Erdkeis: «Volk wird sich gegen Volk erheben.» Seinen Anhängern prophezeit Jesus Verfolgung und spricht ihnen zugleich Trost zu: «Und doch soll nicht ein Haar von eurem Kopf verloren gehen! Mit eurer Widerstandskraft werdet ihr euer Leben gewinnen» (Lk 21,18–19).

Die zeitgenössischen Hörer/Hörerinnen und Leser/Leserinnen von Lukas werden bei seiner Darstellung den jüdischen Krieg (66–73 n. d. Z.) mit all seinen Schrecken vor Augen gehabt haben. Für die jüdische Bevölkerung ist die Zerstörung des Tempels eine Katastrophe, die Josephus mit eindrücklichen Worten beschreibt: «Die Menge der Umgekommenen übertraf … jede von Menschen oder vom Himmel heraufbeschworene Vernichtung. Von denen, die sich blicken liessen, hatten die Römer einen Teil niedergemacht und den anderen gefangen genommen. Die in unterirdischen Gängen aber spürten sie auf, rissen dabei sogar den Boden auf und töteten alle, die sie antrafen.»

Die Zerstörung des Tempels bedeutete eine tiefe Krise für Israel, denn er war ein einzigartiger heiliger Ort der Begegnung von Gott und Mensch. Die Weltordnung, verbunden mit der Gewissheit von Gottes Gegenwart und Gottes Schutz, war ins Wanken geraten.

Im Gespräch mit Lukas

Judentum und Christentum reagierten unterschiedlich auf die Zerstörung des Tempels. Das Judentum gedenkt der Zerstörung des Tempels bis heute mit dem Fastentag am 9.  Aw. Der orthodox-jüdische Autor einer zeitgenössischen Meditation schreibt: «Wir klagen über die Zerstörung des heiligen Tempels. Doch während wir fasten und der Zerstörung gedenken, warten wir zugleich auf den Bau des dritten heiligen Tempels; denn unsere Überlieferung lehrt, dass unser Erlöser, der Moschiach, am Tag der Zerstörung geboren wurde. Aus dem Geröll und der Asche des Tempels erhalten wir das Versprechen, dass wir erlöst werden.»

Synagogen übernahmen prinzipiell nicht die Funktion des Tempels. Das rabbinische Judentum, welches nach der Zerstörung des Tempels zum normativen Judentum wurde, kennt keinen heiligen Ort mehr. Synagogen, wie es der Grundbedeutung des griechischen Wortes entspricht, sind Orte der Zusammenkunft, des Lernens und des Gebetes. An die Stelle der Priester, die im Tempel Opfer darbrachten, traten Rabbiner, die die Tora studierten und auslegten. Hieraus erwuchs der Talmud und mit ihm die Jeschiwot, an denen bis heute Tora studiert und ausgelegt wird. An die Stelle eines heiligen Ortes trat die heilige Zeit, u. a. die Feier des Schabbats, mit der Juden – so Abraham Joshua Heschel – einen Palast in der Zeit erbauen.

Anders im Christentum: Bei Eusebios findet sich erstmals die Gleichsetzung der Kirche mit dem Tempel. Daraus ergibt sich folgendes: Der Tisch des gemeinschaftlichen Essens wird Altar genannt und die Kleriker Priester. «Aus dem Versammlungsraum mit dem Abendmahlsraum, wo die Geistlichen wirken, wird der Tempel mit dem Opferaltar und dem Priester, der opfert.»

Spannend ist es, Spuren der beiden Traditionen nachzugehen und zu sehen, auf welche Weise sie jeweils durchbrochen wurden und werden: wo Synagogen Charakteristika eines heiligen Ortes aufweisen und wo sich in Kirchen Aspekte der synagogalen Tradition niedergeschlagen haben. Im Judentum lässt sich seit dem 19. Jahrhundert eine Tendenz zu Sakralisierung von Synagogen vor allem in Europa und Amerika beobachten. Im liberalen Judentum wurde an manchen Orten sogar der Begriff «Tempel» Bestandteil des Namens von Synagogen. Daneben existieren – vor allem in Israel – zahlreiche Synagogen, die bewusst als Zweckbauten zum täglichen Gebet und Studium gestaltet wurden und werden. Im Christentum findet sich Vergleichbares, wenn auch ganz anders in der konkreten Gestaltung, in der reformierten Tradition. Dort ist das Kirchengebäude in erster Linie Versammlungsraum der Gemeinde, es ist kein heiliger Ort und kein Ort des Kultes.