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Der Gott der Lebenden   

Hans Rapp zum Evangelium am 32. Sonntag im Jahreskreis: Lk 20,27–38 SKZ 43/2010

Spannend werden wichtige religiöse (Lebens-) Fragen, wenn in den Heiligen Schriften dazu nichts geschrieben steht. An diesem Punkt beginnt die Aufgabe der Auslegung. Das war in der Zeit Jesu nicht anders als heute. Das Evangelium erzählt von der Auseinandersetzung um das richtige Verständnis der Heiligen Schrift vor dem Hintergrund existenzieller Fragen. Selbst bei einer nur oberflächlichen Betrachtung wird deutlich, dass es ein dichtes Gewebe von ersttestamentlichen Traditionen darstellt. Versuchen wir, das Evangelium einmal so zu lesen, dass wir nicht, wie üblich, davon ausgehen, dass die Sadduzäer nur die «bad guys» waren, als die sie in der christlichen Auslegungstradition immer erscheinen. Steht hinter ihrer Frage vielleicht ein bedenkenswertes Anliegen?

«… was in den Schriften geschrieben steht»
Das Streitgespräch zwischen Jesus und den Sadduzäern, das auch in Mk 12,18–27 und Mt 22,23–33 im gleichen Kontext erzählt wird, folgt einer Logik, die uns zunächst fremd ist. Die Erzählung spielt sich nämlich auf zwei Ebenen ab. Da ist zunächst die Frage nach der Auferstehung, die die Sadduzäer Jesus stellen. Sie ist eine theologische Frage, eine Glaubensfrage. Sie ist aber auch eine Frage nach der religiösen und politischen Verortung einer Person in der damaligen jüdischen Religionsgemeinschaft. Die Beantwortung dieser Frage hing zu dieser Zeit damit zusammen, welche Traditionen als autoritativ anerkannt wurden. Von den Sadduzäern berichtet Josephus, dass sie nur die fünf Bücher Mose – die Tora – als heilige Schrift anerkannt hätten. Diese Gruppe dominierte das priesterliche «Establishment» und stellte in der Regel auch die Hohepriester. Sie stand einer Hoffnung auf eine individuelle Auferstehung der Toten ablehnend gegenüber. In der Tora und den älteren Schriften des Ersten Testaments ist tatsächlich wenig zur Frage des Schicksals des Menschen nach seinem Tod zu finden. Die «sche’ol», das Reich der Toten, ist im Ersten Testament eine freudlose Angelegenheit im Bereich der ewigen Schatten. «Denn bei den Toten denkt niemand mehr an dich. Wer wird dich in der Unterwelt noch preisen?» so formuliert der Beter in Ps 6,6. Die Ablehnung der Auferstehungshoffnung hatte seitens der Sadduzäer aber auch politisch-gesellschaftliche Gründe. Die Entstehung einer Hoffnung auf Auferstehung der Toten war im hellenistischen Judentum eng mit apokalyptischen Vorstellungen und Hoffnungen verbunden, die den gesellschaftlichen Status quo in Frage stellten. Nicht zufällig finden wir mit Dan 12,2 den ersten klar datierbaren Beleg einer solchen Hoffnung in Zusammenhang mit dem Makkabäeraufstand. Er wurde von Menschen verfasst, die sich erbittert gegen die zunehmende Hellenisierung der jüdischen Kultur und die fortschreitende Integration Palästinas in das Seleukidische Reich wehrten. Dieser Widerstand richtete sich nicht nur gegen «aussen», sondern durchaus auch gegen Juden, die den modernen Zeiten sehr offen gegenüber standen. Die Auferstehung der Toten – gemeint im Sinn der Auferstehung der getöteten Märtyrer – war verbunden mit der apokalyptischen Hoff nung auf ein Eingreifen Gottes in die Geschichte. Doch die Saddzuäer bringen noch eine zweite Frageebene hinein, nämlich die der Halacha. Die jüdische Halacha ist die Literatur, die sich mit religionsgesetzlichen Fragen beschäftigt. Die Geschichte klingt für moderne Ohren vielleicht absurd. Eine Frau überlebt kinderlos sieben Ehemänner, die Brüder sind. Wessen Frau ist sie nun, wenn die Toten auferstehen (Lk 20,28–33)? Der halachische Problemkreis ist die sogenannte Leviratsehe. Der Bruder eines Mannes, dessen Ehe kinderlos geblieben war, musste nach Dtn 25,5–6 die Witwe heiraten und seinem Bruder und seiner Schwägerin auf diese Weise Nachkommenschaft ermöglichen. Die sadduzäischen Frager stellen das halachische Problem in den eschatologischen Zusammenhang der Frage nach der Auferstehung der Toten bzw. die theologische Frage in den Zusammenhang der Halacha. Damit wird die Frage nach der Auferstehung der Toten ad absurdum geführt. Die Erzählung liest sich wie ein ironischer Kommentar auf eine andere Erzählung zu Märtyrertum und der Auferstehung der Toten, die im zweiten Makkabäerbuch überliefert ist. Sie handelt von sieben Brüdern und ihrer Mutter. Sie erleiden nacheinander das Martyrium, weil sie sich weigern, das Gesetz zu übertreten und die jüdischen Speisevorschriften zu missachten. Die Hoffnung auf die Auferweckung durch den allmächtigen Gott gibt ihnen die Kraft, das grausame Martyrium auf sich zu nehmen (2 Makk 7,14). Für die Getreuen Gottes ist die Auferstehung der Lohn, für den Folterer der ewige Tod. In der Gegenwart hat diese Märtyrerfrömmigkeit in der Ideologie von Selbstmordattentätern/ -attentäterinnen eine perverse Weiterentwicklung erlebt. Die sadduzäische Version der Erzählung versucht, dieser Märtyreridelogie den Boden zu entziehen. Auch Jesus argumentiert auf zwei Ebenen. Die erste Antwort, die er den Sadduzäern gibt, ist philosophisch, die zweite ist biblisch. Die erste weist die Argumentation der Gesprächspartner mit dem Argument zurück, dass die Halacha in der Endzeit nicht mehr gültig ist. Die zweite Argumentation ist exegetisch. Jesus legt eine der zentralen Stellen der Tora vor dem Hintergrund der Frage nach der Auferstehung der Toten hin aus. Er zitiert die Erzählung von Mose am Dornbusch (Ex 3,6.15) und versteht die Verse, ganz im Einklang mit den exegetischen Methoden des Judentums seiner Zeit, so, dass sie von einer Präsenz der Patriarchen bei Gott sprechen. «Er ist doch kein Gott von Toten, sondern von Lebenden; denn für ihn sind alle lebendig » (Lk 20,38). Deutlich bekennt er sich damit zur Hoff nung auf die individuelle Auferstehung der Gerechten von den Toten. Die sen Glauben hat sich auch das rabbinische Judentum zu eigen gemacht.

Im Gespräch mit Lukas
Die Geschichte der Sadduzäer hat allerdings ein Anliegen, das sich auch im modernen Judentum findet und keineswegs so absurd ist. Denn was die Sadduzäer mit ihrer Geschichte von der Frau und ihren sieben Männern eigentlich sagen, ist dass die Frage nach einer Auferstehung der Toten für die gläubige Lebenspraxis eines Juden und einer Jüdin schlicht irrelevant ist. Im Hinblick auf die apo kalyptisch motivierten Kriege der Juden gegen die Römer und im Rahmen einer fanatisierten Religiosität konnte dieser Glauben sogar gefährlich sein. Der jüdische Philosoph Jeschajahu Leibowitz hat das aus der jüdischen Tradition heraus sehr pointiert weitergedacht. An Gott zu glauben heisst für ihn, die Halacha – das Gesetz Gottes – zu erfüllen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1953 schreibt er: «Die Identität und die dauerhafte Existenz des Judentums waren sicher nie abhängig von einer bestimmten Philosophie, Weltanschauung oder Theologie» (Religious Praxis: The Meaning of the Halkhah). Über Fragen der Endzeit lässt sich unendlich streiten. Entscheidend ist aber, wie wir unser Leben hier und jetzt führen. Diese einfache Forderung steht hinter dem Anliegen des Judentums, das uns in der Geschichte der Sadduzäer begegnet.