Wir beraten

Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie dieser Pharisäer!   

Dieter Bauer zum Evangelium am 30. Sonntag im Jahreskreis: Lukas 18,9–14

Ein befreundeter Pfarrer meinte einmal scherzhaft zu mir, das Problem mit dem «Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner» sei für ihn, dass sich alle Zuhörenden automatisch mit dem Zöllner identifizierten – und deshalb sässen bei ihm alle in den hintersten Kirchenbänken. Allerdings: Dieser Scherz hat es in sich. Das «Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner» stellt den Zuhörenden tatsächlich eine Falle, in die wir nur allzu leicht hineintappen: Es ist dermassen polemisch erzählt, und der Pharisäer ist eine solche Karikatur, dass niemand auf die Idee käme, sich gar selbst darin wiederzuerkennen. Und, was eigentlich fast schlimmer ist: Die Karikatur des Pharisäers war seit jeher eine Steilvorlage für antisemitische Predigten. Dass diese Falle zu vermeiden wäre, braucht heute hoffentlich nicht mehr eigens betont zu werden.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Aber die Falle ist natürlich aufgestellt. Bereits die Einleitung in das Gleichnis gibt eine ganz klare Leseanweisung: «Einigen, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten, erzählte Jesus dieses Beispiel …» (V. 9). Die Adressaten des Gleichnisses sind klar benannt. «Und das bin sicher nicht ich», ist man geneigt, sogleich hinzuzufügen. Sooo überzeugt von unserer Gerechtigkeit sind wir nun wirklich nicht. Und andere zu verachten, kommt für einen guten Christen sowieso nicht in Frage. Man hört also das Gleichnis in der festen Überzeugung, dass es andere Menschen, schlechtere, im Blick hat.

Obwohl alle in der Szene Anwesenden Juden sind – das kann man leider nicht oft genug betonen! –, hat man trotzdem immer wieder auf den Pharisäer als negatives Beispiel jüdischer Gesetzesfrömmigkeit verwiesen. Und das, obwohl auch das rabbinische Judentum im Talmud überliefert: «Vertraue nicht auf dich selbst bis zu deinem Todestag. Richte deinen Genossen nicht, bis du in seine Lage gekommen bist» (Rabbi Hillel, um 20 v. Chr.; bAbot 2,5). Ein Mensch, der so betet wie unser Pharisäer in V. 11 f., wird auch innerhalb des Judentums misstrauisch betrachtet, wenn nicht abgelehnt. Bereits beim Propheten Ezechiel ist über diejenigen zu hören, die allzu sehr auf die eigene Gerechtigkeit vertrauen: «Wenn ich zu dem Gerechten sage: Du wirst am Leben bleiben!, er aber im Vertrauen auf seine Gerechtigkeit Unrecht tut, dann wird ihm seine ganze (bisherige) Gerechtigkeit nicht angerechnet» (Ez 33,13).

Es geht also sicher nicht darum, sich über diese Karikatur eines Beters zu erheben, so wie dieser sich über den Zöllner erhebt. Worauf das Gleichnis hinauswill, ist das überraschende Gegenbild eines Sünders, der gerechtfertigt werden wird: Er hält respektvollen Abstand vom Allerheiligsten und drängt sich nicht vor. Er «wollte nicht einmal seine Augen zum Himmel erheben», was ihm auch erspart, Vergleiche mit anderen Menschen anzustellen, die in sein Blickfeld geraten könnten. Im Gegensatz zum Pharisäer, der sich «für sich» hinstellt (so müsste man gegen die Einheitsübersetzung das pros heauton beziehen), um über andere zu lästern, ist er wirklich bei sich. «Er schlug sich an die Brust», d. h. er bereute seine Taten. Und er macht nicht viele Worte, sondern spricht mit den Worten des Psalmisten: «Gott, sei mir Sünder gnädig!» (Lk 18,13; vgl. Ps 51,3). War das Gebet des Pharisäers eine Karikatur von Psalm 119 gewesen, so hatte der Zöllner das Gebet des Psalms 51 verinnerlicht, das von der Tradition mit dem sündigen David in Verbindung gebracht worden ist.

Mit Lukas im Gespräch

Das (rechte) Beten ist ein Lieblingsthema des Lukas, und auch unser Gleichnis findet sich in einem grösseren Zusammenhang über das (Bitt-)Gebet. Im Abschnitt davor liess sich der ungerechte Richter im Gleichnis von der penetrant bittenden Witwe erweichen. Ging es dort darum, im Bitten nicht nachzulassen, so geht es hier um die Haltung, in der allein ein Gebet nur Sinn macht. Während der Pharisäer Gott um nichts zu bitten braucht, weil er sich (vermeintlich) bereits alles selbst erworben hat, bittet der Zöllner, der (vermeintlich) nichts vorzuweisen hat, allein um die gnädige Annahme durch Gott. Dies wiederum wird im folgenden Abschnitt vertieft durch das Beispiel der (unmündigen) Kinder, denen das Reich Gottes gehört.

Trotzdem ist auch hier vor einer weiteren Falle zu warnen. Die durch die Gleichnisstruktur angelegte Schwarz-Weiss-Malerei verführt nur allzu leicht dazu, den Zöllner und nur ihn als anzustrebendes Vorbild beim Beten anzuschauen. Das ist er meiner Meinung nach definitiv nicht. Bei allem Respekt vor seinem Respekt vor dem allerheiligsten Gott: Ein Mensch, der die Augen nicht erheben «will» (so wörtlich!), kann auch keine Beziehung aufnehmen. Und ein Mensch, der sich selber schlägt, und sei es in einem Bussritus, kann kein prinzipielles Vorbild für einen Beter sein.

Mir hilft zu diesem Verständnis eine Beobachtung in V. 14a, die meines Erachtens wie folgt zu übersetzen wäre: «Dieser (d. i. der Zöllner) kehrte als Gerechter nach Hause zurück, eher als jener (gr. par’ ekeinon).» Wir mögen keine Pharisäer sein, aber wir sind auch keine Zöllner. Und das wäre auch gar nicht anzustreben. Worum es dem lukanischen Jesus geht, ist die Vermeidung einer Selbstgerechtigkeit, die sich auch bei «Zöllnern» finden könnte, insofern sie sagen: «Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie diese Pharisäer.»

Man hat viel darüber spekuliert, inwiefern die unser Gleichnis abschliessende «Moral von der Geschichte» passt: «Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden» (V.14). Es mag ja sein, dass der Pharisäer sich «selbst erhöht» hat, wahrscheinlich aber eher nicht. Und wenn man sieht, dass der Zöllner sich die Brust schlägt, so ist das ein Gestus der Selbsterniedrigung. Aus diesem Status aber, der für ihn nicht gut ist, muss er herauskommen! Das geht aber nur, wenn sich in dieser Welt etwas verändert, in der die Mächtigen sich immer noch selbst erhöhen und die Niedrigen immer noch kleiner werden.

Wahrscheinlich ist diese Abschlussformel auch nur zu verstehen im Grosszusammenhang des Lukasevangeliums, in dem es um die totale endzeitliche Wende mit dem Anbrechen des Reiches Gottes geht, mit der totalen Umwertung aller Werte:

Diese Linie beginnt bereits beim Propheten Ezechiel, der das Gotteswort verkündet: «Weg mit dem Turban, herunter mit der Krone! Nichts soll bleiben, wie es ist. Das Niedrige wird hoch, das Hohe wird niedrig» (Ez 21,31). Dieses Wort findet sich dann wieder im Munde der Mutter Jesu: «Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen» (Lk 1,52).

Bei der lukanischen Überlieferung vom rechten Beten geht es also nicht einfach nur um die Gebrauchsanweisung für eine Frömmigkeitsübung, sondern es steht tatsächlich alles auf dem Spiel. Wer recht betet, will von ganzem Herzen, dass sich in dieser Welt etwas radikal verändert. Und er fängt bei sich selbst an – und nicht bei den anderen!

1 Auch schon bei seiner ersten Nennung Samariens hatte Lukas auf die Elija-Elischa-Tradition angespielt («Feuer vom Himmel fallen lassen», 9,51–56; vgl. 2 Kön 1,10–12).

2 Das habe ich von Joseph Wresinki gelernt. In seiner Arbeit mit den Ärmsten der Armen bekam er eine ganz neue Sichtweise auf die biblischen Texte. Und ich bin inzwischen davon überzeugt, dass der Kontext der Armut ein wesentlicher, wenn nicht der entscheidende hermeneutische Schlüssel zum Verständnis der biblischen Texte ist, vor allem der für uns schwer verständlichen: Joseph Wresinski: Selig ihr Armen (Reihe: Glaube und Leben, Bd. 29).Münster 2005, S. 90–99; erhältlich bei: ATD Vierte Welt, La Crausa 3, 1733 Treyvaux, www.vierte-welt.ch.

3 Ebd., 90.

4 Ein neuerer und ansonsten ganz hervorragender Kommentar, nämlich der von François Bovon, formuliert z. B.: «Von zehn Begünstigten haben sich neun verdrückt, ohne ihrem Dank Ausdruck zu geben.»