Wir beraten

Erst kommt die Heilung, dann kommt die Moral!   

Dieter Bauer zum Evangelium am 28. Sonntag im Jahreskreis: Lukas 17,11–19 SKZ 39-40/2010

«Nun sag auch schön danke», hörten wir als Kinder oft. Danke sagen ist eine Sache der Höflichkeit. Und: Danke sagen kann man lernen. Trotzdem können es viele nicht. Was wiederum für andere ein Skandal ist. In unserem heutigen Evangelium liegt die Prozentrate derer, die es nicht können, sogar bei erschreckenden 90 Prozent! Was bedeutet das? Eine Steilvorlage für eine Moralpredigt? Oder vielleicht Anlass, einmal darüber nachzudenken, woran das liegen mag …

«… was in den Schriften geschrieben steht»

«Auf dem Weg nach Jerusalem zog Jesus durch das Grenzgebiet von Samarien und Galiläa» (Lk 17,11). Die griechische Formulierung dieses so klar scheinenden Sachverhalts ist einigermassen seltsam. So seltsam, dass sich die Übersetzer einfach nicht einigen können. Wenn Lukas sehr poetisch dia méson sagt, dann meint das nicht einfach «durch das Grenzgebiet», sondern so etwas wie «der Grenze entlang». Jesus bewegt sich als «Grenzgänger» zwischen seiner Heimat Galiläa und Samaria, dem Gebiet, das fromme Juden seit Jahrhunderten mieden, weil die dort ansässige Mischbevölkerung nicht ihren Reinheitsvorstellungen entsprach. In dieser «Fremde» nun kommen Jesus tatsächlich «Unreine» entgegen, nämlich «zehn Aussätzige» (V. 12).
So wie das Evangelium erzählt («Sie blieben in der Ferne stehen und riefen: Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns!»), wissen diese zehn Aussätzigen bereits von Jesus. Sie reden ihn als «Meister», d. h. Lehrer, Rabbi, an. Und sie kennen die Psalmen: «Herr, hab Erbarmen, heile mich» (Ps 41,5) oder: «Gott, hab Erbarmen nach deiner Huld» (Ps 51,3). Aber Jesus ist nicht Gott. Was soll er also tun?
Jesus reagiert genau so, wie er es auch sonst im Lukasevangelium tut: Er «sieht» (V. 14) und hat Mitleid (vgl. den barmherzigen Samariter Lk 10,33 oder den barmherzigen Vater 15,12, aber auch Jesus selbst dem Jüngling von Nain gegenüber 7,13). Und was tut er? Eben das, was seine Heilige Schrift in diesem Fall vorsieht: Er schickt die Aussätzigen zu den Priestern, die als Einzige die Heilung feststellen können (V. 14; vgl. Lev 13). Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, dass unser allgemein üblich gewordenes Verständnis, bei «Aussatz» (griechisch: lepra) handle es sich um unsere medizinische Diagnose «Lepra», so nicht richtig ist. Nach biblischem Verständnis handelt es sich beim Aussatz um eine Unreinheit der Haut, die den Menschen von der Gemeinschaft ausschliesst. Der Begriff dieser «Unreinheit» ist also viel weiter gefasst als nur medizinisch. Und: Dass eine solche Unreinheit vorliegt, kann auch nicht etwa jeder x-beliebige Nachbar feststellen, sondern diese Feststellung ist aus guten Gründen Fachleuten, nämlich den Priestern, vorbehalten.
Wenn Jesus die zehn Aussätzigen also zu den Priestern schickt, dann heisst das entweder, dass er persönlich sie zwar für «rein» hält, diese Feststellung aber nach dem «Gesetz», der Tora, den Priestern überlässt. Oder er traut ihnen zu, dass dieser Weg, den sie nun auf sich nehmen, nämlich zu den Priestern (nach Jerusalem?), sie in die Gemeinschaft der Menschen zurückführen würde. So jedenfalls lässt es unser Evangelium vermuten: «Und während sie zu den Priestern gingen, wurden sie rein» (V. 14).
Der Erste, der an ihre Heilung glaubt, ist also Jesus. Und sein Glaube bringt die zehn Aussätzigen, die wiederum ihm glauben, auf den Weg. Und auf diesem Weg werden sie tatsächlich heil.

Mit Lukas im Gespräch

An dieser Stelle führt Lukas ein weiteres Thema ein: «Einer von ihnen aber kehrte um, als er sah, dass er geheilt war; und er lobte Gott mit lauter Stimme. Er warf sich vor den Füssen Jesu zu Boden und dankte ihm. Dieser Mann war aus Samarien. Da sagte Jesus: Es sind doch alle zehn rein geworden. Wo sind die übrigen neun? Ist denn keiner umgekehrt, um Gott zu ehren, ausser diesem Fremden?» (VV. 15–18). Ich kann mir nicht helfen: Ich höre hier eine Moralpredigt. Und das ärgert mich je länger, je mehr. Ich kann mir beim besten Wollen nicht vorstellen, dass Jesus von Nazaret so gesprochen hat, und zwar aus folgenden Gründen:
1. Dass Jesus diese Unterscheidung von Juden und «Ausländern» (so wörtlich und nur hier im Neuen Testament) so für sich übernimmt, steht im Widerspruch dazu, dass er sonst solche Unterscheidungen nicht trifft, sondern sich bedingungslos allen, selbst «Zöllnern und Sündern», zuwendet. Und die Leserinnen und Leser des Lukasevangeliums erinnern sich noch an die Polemik Jesu in Nazaret, wo er seinen Landsleuten vorgehalten hatte: «Viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman» (Lk 4,27; vgl. 2 Kön 5,1–27).1 Auch hier also ein «Ausländer»!
2. Auch wenn es für viele – vor allem in unseren gesättigten Regionen Mitteleuropas – schwer vorstellbar ist: Für die Ärmsten der Armen (und das sind die heutigen «Aussätzigen») gehört Dankbarkeit nicht zu den Verhaltensweisen, die sich (von uns) einfordern liessen.2 Bert Brecht hat es einmal überspitzt so formuliert: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.» Jesus hier auf der Seite der Moralapostel wiederzufinden, ist mir zuwider. Und immerhin ist festzuhalten: Jesus stellte (nach Lukas) zwar Fragen zu denjenigen, die nicht zurückkamen. Aber von «Undankbarkeit», wie wir das immer (in den Predigten?) hören, sprach er tatsächlich nicht!
Es mag sein, dass Lukas hier – wie schon im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) – eine Spitze gegen diejenigen formuliert, die sich sonst über die Samaritaner erheben. Viel wichtiger scheint mir aber zu sein, dass Jesus allen die Heilung ermöglicht, die sich von ihm auf den Weg schicken lassen, eben gerade unabhängig davon, ob es sich um Einheimische oder «Ausländer» handelt. Alle zehn Aussätzigen werden geheilt! Und er begründet diese Heilung, das «Reinwerden», mit dem Glauben dieser Menschen: «Dein Glaube hat dir geholfen.» (V. 19) Welcher Glaube?
–»«‚Da war ja zunächst einmal das Zutrauen der zehn Aussätzigen in den «Meister», dass er ihnen Gottes Erbarmen entgegenbringen würde. «So kann (nur? D. B.) ein Mensch glauben, der in untermenschlichen Verhältnissen vegetiert».3
–»«‚Dann war es aber auch der Glaube Jesu in die Möglichkeiten dieser zehn Menschen (und – theologisch gesprochen – natürlich in die Möglichkeiten Gottes), ihren Weg zurück in die Gemeinschaft der Menschen zu finden.
–»«‚Und drittens, auch wenn es so nicht dasteht: Diese zehn Menschen brauchen auch den Glauben an sich selbst. An die je eigenen Möglichkeiten, ihren Weg (wieder) zu finden.
Wenn das dann aber gelingt – und dem Text unseres Sonntagsevangeliums gemäss gelingt es allen zehn! –, dann ist das ein ungeheuer grosses Wunder! Demgegenüber ist jede Kleinlichkeit unangemessen und geradezu armselig, die nun das kleine Wörtchen «danke» einfordert.4


1 Auch schon bei seiner ersten Nennung Samariens hatte Lukas auf die Elija-Elischa-Tradition angespielt («Feuer vom Himmel fallen lassen», 9,51–56; vgl. 2 Kön 1,10–12).
2 Das habe ich von Joseph Wresinki gelernt. In seiner Arbeit mit den Ärmsten der Armen bekam er eine ganz neue Sichtweise auf die biblischen Texte. Und ich bin inzwischen davon überzeugt, dass der Kontext der Armut ein wesentlicher, wenn nicht der entscheidende hermeneutische Schlüssel zum Verständnis der biblischen Texte ist, vor allem der für uns schwer verständlichen: Joseph Wresinski: Selig ihr Armen (Reihe: Glaube und Leben, Bd. 29).Münster 2005, S. 90–99; erhältlich bei: ATD Vierte Welt, La Crausa 3, 1733 Treyvaux, www.vierte-welt.ch.
3 Ebd., 90.
4 Ein neuerer und ansonsten ganz hervorragender Kommentar, nämlich der von François Bovon, formuliert z. B.: «Von zehn Begünstigten haben sich neun verdrückt, ohne ihrem Dank Ausdruck zu geben.»