Wir beraten

Ausgleichende Gerechtigkeit?   

Katharina Schmocker zum Evangelium am 26. Sonntag im Jahreskreis: Lk 16,19–31 SKZ 37/2010

Der Kirche bzw. ihren Vertreterinnen und Vertretern fiel und fällt es immer mal wieder ein, die Notleidenden auf Erden mit der Aussicht auf ein glückliches Leben nach dem Tod zu vertrösten, wenn sie nur bemüht sind, moralisch gut zu leben. Das Gleichnis vom reichen Menschen und vom armen Lazarus scheint prä­destiniert, diese These zu stützen.

«... was in den Schriften steht»

Für einmal ist zu betonen, was alles nicht in den Schriften steht und was wir doch traditionellerweise mitlesen. Zum Beispiel wird der Reiche nicht ausdrücklich kritisiert, dass er etwa gefehlt habe oder es an (religiösem) Eifer fehlen liess. Schon gar nicht wird er dafür getadelt, reich zu sein. Aus der Schilderung lässt sich zwar schliessen, dass er Lazarus weder Almosen noch andere Hilfe zukommen liess. Die Unterlassung wird allerdings nicht hervorgehoben, und offenbar hat er ihn wenigstens nicht von seiner Tür weggewiesen. Seine Bitte an Abraham, Lazarus möge ihm Linderung in seinem Leid verschaffen, wird ausserdem nicht mit der Begründung zurückgewiesen, er habe Lazarus ja ebenfalls nicht geholfen. Es wird ihm lediglich vor Augen geführt, dass er sein Mass am Guten – bzw. an Gütern – bereits geniessen konnte und es im Übrigen gar nicht möglich sei, von Abraham in den Hades zu gelangen oder umgekehrt. Trotzdem möchte der Reiche erreichen, dass wenigstens seine fünf Brüder zur Umkehr bewegt werden. Der Verweis auf Moses und die Propheten klärt wiederum nicht, wovon sie sich abwenden sollen. Natürlich lassen sich in den entsprechenden Schriften Hinweise finden, dass für die Armen und Schwachen gesorgt werden soll. Andererseits lesen wir in Dtn 28: «… weil du der Stimme des Herrn, deines Gottes gehorsam gewesen bist, werden über dich kommen und dir zuteilwerden all diese Segnungen: Gesegnet wirst du sein in der Stadt, gesegnet wirst du sein auf dem Acker. Gesegnet wird sein … der Ertrag deines Ackers, … dein Korb und dein Backtrog. Gesegnet wirst du sein bei deinem Eingang und bei deinem Ausgang» (VV 2–6) – und im Gegenzug: «Wenn du aber nicht gehorchen wirst der Stimme des Herrn, deines Gottes, … verflucht wirst du sein in der Stadt, verflucht wirst du sein auf dem Acker … Der Herr wird dich schlagen mit ägyptischem Geschwür, mit Pocken, mit Grind und Krätze, … mit bösen Geschwüren an Knien und Waden, dass du nicht geheilt werden kannst, von den Fusssohlen bis zum Scheitel» (VV 15–35). Was liegt näher, als irdische Segnungen als Zeichen für Gottgefälligkeit, irdisches Leid aber als Erweis der Verfluchung durch Gott zu interpretieren? Lazarus wird als arm, «hingeworfen vor sein [des Reichen] Tor, geschwürig und begehrend, sich zu sättigen vom Fallenden vom Tisch des Reichen» geschildert. Ist er deshalb – wie wir christlich-humanistisch verbrämt anzunehmen geneigt sind – schon als fromm und gut charakterisiert? Verstärkt der Hinweis, dass ihm die – als unrein geltenden – Hunde die Wunden lecken, das Mitleiderregende oder das Abstossende seiner Situation?

Mit Lukas im Gespräch

Das 16. Kapitel des Evangeliums nach Lukas, an dessen Ende die Geschichte vom reichen Menschen und vom armen Lazarus steht, ist insgesamt irritierend. Würde der Textabschnitt an Vers 15 anknüpfen, so läge der Schluss nahe, dass es – weiterhin – um den Umgang mit dem Reichtum gehe. Doch der Verfasser schiebt zwei Gedankengänge ein, von denen der erste nicht leicht zu verstehen ist und die beide zumindest auf den ersten Blick nichts mit dem genannten Thema zu tun haben: «Das Gesetz und die Propheten (galten) bis Johannes; von da (an) wird das Königtum Gottes (als Evangelium) verkündet, und jeder dringt gewalttätig in es ein. Leichter aber ist, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein einziges Häkchen des Gesetzes (weg)fällt» (16,16 f.). Und: «Jeder Entlassende seine Frau und Heiratende eine andere bricht die Ehe, und der eine vom Mann Entlassene Heiratende bricht die Ehe» (16,18).
Auch die Anschlussverse bieten keine abrundende Erklärung und Rahmung: «Er sprach aber zu seinen Schülern: Unmöglich ist, dass die Ärgernisse nicht kommen, jedoch wehe, durch den sie kommen; besser wäre für ihn, wenn ein Mühlstein umgelegt wäre um seinen Nacken und er geworfen wäre ins Meer, als dass er Anstoss gibt einem dieser Kleinen» (17,1 f.).

Lesen wir, ungeachtet der erwähnten Einschübe, Lk 16,19–31 als Fortsetzung des Gedankengangs im ersten Teil des Kapitels, stellen wir fest, dass die Kernaussage tatsächlich keine Kritik an den Reichen generell und am Reichtum an sich ist. Vielmehr lobt Jesus das Vorgehen des Verwalters, der sich durch Veruntreuung durch das Geld seines Herrn vorsorglich Freunde schafft, indem er sogar auffordert: «Macht euch Freunde vom Mammon der Ungerechtigkeit, damit, wann es aufhört, sie euch aufnehmen in die ewigen Zelte» (16,9). Andererseits ist der besprochene Textabschnitt kein Lob der Armut. Die Armen werden hier keineswegs seliggepriesen, sind nicht arm, dafür glücklich, was uns die Schilderung von Lazarus’ Zustand deutlich vor Augen führt. Auch der Tod bringt nicht einfach die Umkehr der Verhältnisse im Jenseits. Der konkreten Schilderung vom Leben des Reichen «er kleidete sich mit Purpur und Feinleinen, feiernd täglich glänzend» (V 19) steht der etwas blasse Hinweis gegenüber: «er wurde fortgetragen von den Engeln in den Schoss Abrahams» (V 22), der ergänzt wird durch die Bemerkung Abrahams: «er wird hier getröstet» (V 25). Lazarus ist stets passiv. Auch im Jenseits wendet sich der Reiche nicht reumütig an ihn mit seiner Bitte, sondern er fordert Abraham auf, ihn zu ihm in den Hades oder wenigstens zu seinen Brüdern als Mahner zu schicken. Obwohl oder gerade weil nicht der Reiche, sondern nur der Arme in der Parabel mit Namen genannt wird, eignet er sich nicht als Identifikationsfigur. Er ist definiert als Lazarus und durchgängig fremdbestimmt. Jesus richtet seine Geschichte nicht beschwichtigend an die Armen. Was er vom Reichen erzählt, hat uns etwas zu sagen. Dieser nämlich wird eingeführt als «ein Mensch». Er hat die nötigen Voraussetzungen, sein Leben selbst zu gestalten, und nur daher kann er überhaupt zur Rechenschaft gezogen werden. Solche wie ihn gibt es viele – er hat fünf Brüder. Doch noch im Jenseits versucht er, die Verantwortung abzuschieben. Er bittet nicht darum, selbst hingehen und seine Brüder warnen zu können, die ohnehin schon «Moses und die Propheten» haben (V 29). Er möchte, dass Abraham den Lazarus schickt. Abraham jedoch beharrt darauf, dass diejenigen, die es sich leisten können, ihr Leben selbst zu gestalten, auch dafür verantwortlich sind, die Hilfestellungen, die ihnen durch Moses und die Propheten vermittelt wurden, in ihre Lebensgestaltung mit einzubeziehen. Vielleicht schwingt im Schlusssatz eine leichte Resignation des Verfassers mit, dass die Botschaft Jesu von der Verantwortung des Menschen in ein Vertrösten des armen Lazarus und ein Abwälzen der Verantwortung verkehrt wurde: «Wenn Moses und die Propheten sie nicht hören, auch nicht, wenn einer aus Toten aufsteht [Lazarus? Jesus?], werden sie überzeugt werden» (Lk 16,31).

Dr. Katharina Schmocker Steiner ist zurzeit in der Administration im Zürcher Lehrhaus – Judentum Christentum Islam tätig.