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Wie geht es den 99 Schafen?   

Hans Rapp zum Evangelium am 24. Sonntag im Jahreskreis: Lk 15,1–32, SKZ 35/2010

Ein Schaf aus einer Herde von hundert Schafen geht verloren. Der Hirt lässt die 99 im Stich und geht dem hundertsten nach. Das widerspricht dem «gesunden», ökonomisch geschulten Menschenverstand. Mindestens meinem. Die Frage drängt sich auf: Wie geht es den 99 zurückgelassenen Schafen damit?

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Das Evangelium besteht aus der Rahmenhandlung des Wirkens Jesu und eines Gesprächs mit Pharisäern und Schriftgelehrten. Lukas hat innerhalb dieses Rahmens zwei Gleichnisse und eine Parabel unter dem Stichwort des Verlorenen angeordnet. Das verlorene Schaf, die verlorene Drachme und der verlorene Sohn. Das Verb «apollymi» zieht sich als verbindender roter Faden durch die gesamte Perikope (Lk 15,4.6.8.9.24.32). Das Thema aller drei Erzählungen ist die Freude über das Wiederfinden von etwas Verlorenem.
Im zweiten Vers der Rahmenhandlung bin ich über ein schwieriges griechisches Verb gestolpert: «Es murrten die Pharisäer und Schriftgelehrten…». Die Einheitsübersetzung gibt das griechische Wort «diagongyzô» mit «sich empören» wieder. Es erscheint im Neuen Testament nur noch einmal bei Lk 19,7. Der Zusammenhang ist die Zachäus-Erzählung (Lk 19,1–10). Es drückt dort die Unzufriedenheit der Leute darüber aus, dass Jesus bei einem Sünder einkehrt. Die Einheitsübersetzung «sich empören» ist irreführend. Das Verb diagongyzô gibt in der Septuaginta das hebräische Wort «lûn» wieder. Dieses Wort wird im Ersten Testament gewöhnlich mit «murren» übersetzt. Die Pharisäer und Schriftgelehrten murren in unserer Erzählung darüber, dass sich – wörtlich – alle Steuereintreiber und Sünder an Jesus annähren und ihm zuhören (Lk 15,1). Im Ersten Testament gibt es eine ganze Reihe solcher Murrgeschichten. Das Volk Israel murrt in diesen Geschichten in der Wüste über seine missliche Lage. Es gibt kein Wasser, es gibt kein Essen, und überhaupt war es in Ägypten viel netter. Das Murren richtet sich gegen die Menschen, die das Volk in diese Lage geführt haben, vor allem gegen Mose: «Mose liess Israel vom Schilfmeer aufbrechen, und sie zogen zur Wüste Schur weiter. Drei Tage waren sie in der Wüste unterwegs und fanden kein Wasser. Als sie nach Mara kamen, konnten sie das Wasser von Mara nicht trinken, weil es bitter war. Deshalb nannte man es Mara (Bitterbrunn). Da murrte das Volk gegen Mose und sagte: Was sollen wir trinken?» (Ex 15,22–24). Das Thema aller dieser Erzählungen ist das Vertrauen des Volks Israel in der Wüste in Gott. Hinter Murrgeschichten steht die Angst. Israel hat ja in der Wüste einen guten Grund dazu. Es ist die Angst um die eigene Existenz, die in der Wüste bedroht ist. Lukas signalisiert durch dieses Wort, dass er die gegenwärtige Situation als eine Wüstensituation deutet, die für das Volk lebensbedrohlich ist.
Warum rahmt Lukas seine Gleichnisse vom Verlorenen und Wiedergefundenen als Murrgeschichten? Eine rabbinische Erzählung könnte hier einen Hinweis geben. Sie hat die drei Erzählungen des Lukasevangeliums ganz neu zusammengeführt und damit ein Gespräch mit Lukas aufgenommen.

Im Gespräch mit Lukas

Der Punkt, zu dem das Gleichnis die Motive des Lukasevangeliums zusammenführt ist die Präsenz Gottes gerade bei dem, der ausserhalb seines «Heilsbereiches» steht. Das Gleichnis, das sich unter anderem im rabbinischen Schriftkommentar Bereshit Rabba findet, geht von Gen 39,2 aus: «Der Ewige war mit Josef.» Es kommentiert also einen Vers aus der Josephserzählung der Genesis. Die Josefserzählung ist ebenfalls eine Erzählung vom Verlieren und Wiederfinden eines Sohns und von der Eifersucht der Geschwister. Der Gleichniserzähler stellt sich zu diesem Vers die Frage: Warum war Gott nicht bei den Brüdern im Land Kanaan? Der Vers steht im Zusammenhang des Abschnittes, der davon erzählt, dass der Kämmerer des Pharao, Potiphar, Josef gekauft hat. Josef macht im Haushalt Potiphars Karriere, und der Ewige segnet das Haus des Kämmerers. Im Haus Potiphars gerät er aber auch in Gefahr. Nach der Erzählung der Bibel will ihn Potiphars Frau verführen (Gen 39,7). Gen 39,2 steht am Anfang und Ende des Gleichnisses.
«Der Ewige war mit Josef» (Gen 39,2). War er etwa nicht auch mit den anderen Stämmen? Rabbi Yûdan sagte: Gleich einem Ochsenhalter, der zwölf mit Wein beladene Ochsen vor sich hertrieb. Einer davon ging in den Laden eines Nichtjuden. Da liess er die elf Ochsen stehen und ging diesem nach. Sie sagten zu ihm: Was lässt du die elf stehen und gehst dem einen nach? Er sagte zu ihnen: Jene sind im öffentlichen Bereich, und für sie befürchte ich nicht, dass der Wein für Götzendienst missbraucht wird. Aber bei diesem Tier, das in den Laden eines Nichtjuden gegangen ist, befürchte ich, dass der Wein für den Götzendienst missbraucht wird. So: Jene waren erwachsen und im Bereich ihres Vaters. Aber dieser war unmündig und auf sich allein gestellt. Deshalb: «Der Ewige war mit Josef» (Gen 39,2) (BerR 86,4).

Der jüdische Ausleger nimmt den Satz ausschliessend: Gott ist mit Josef in der Diaspora, unter den Heiden – nicht mit den übrigen Brüdern, verstanden als die übrigen elf Stämme Israels. Und tatsächlich ist es so, dass scheinbar der Segen Gottes von Israel auf das Haus Potiphars übergegangen ist. Während nämlich Potiphars Haushalt – und später auch der Haushalt ganz Ägyptens – unter Josef blüht und gottgesegnet ist (Gen 39,5), scheint der Segen die Familie Josefs verlassen zu haben. Sie leiden unter einer weltweiten Hungersnot (Gen 42,2). Der rabbinische Gleichniserzähler aus dem 4. Jahrhundert hat vermutlich die jesuanischen Gleichnisse vom Verlorenen und Wiedergefundenen gekannt und die Fäden in ganz eigener Weise verbunden. Der Wein des Ochsen, der in die Sphäre der Nichtjuden gerät, bedarf des besonderen Schutzes Gottes. Denn es könnte allzu leicht geschehen, dass er in der heidnischen Sphäre verunreinigt wird und nicht mehr zum (jüdischen) Genuss tauglich ist. Wäre Joseph verdorben worden – hätte er sich in Ägypten assimiliert – wäre die Heilsgeschichte so nicht möglich geworden.

Zurück zum Murren! Die Pharisäer und Gesetzeslehrer murren. Sie fühlen sich bedroht. Die Gleichnisse vom Verlorenen und die Parabel vom barmherzigen Vater finden in der rabbinischen Geschichte einen gemeinsamen Fluchtpunkt: Es ist die Anwesenheit Gottes im Entfernten, in der scheinbaren Gottferne. Das Schaf in der Wüste, der Denar im Finstern und der Sohn im heidnischen Ausland: «Der Ewige war mit Josef.» Warum nicht mit den Brüdern? Das Gleichnis gibt eine einfache Antwort: weil die elf anderen Ochsen nicht im gefährdeten Bereich sind. Der jüdische Erzähler trifft sich da mit Jesus. Das Verlorene hat den Beistand Gottes nötiger als das, was zurückbleibt. Wenn die Pharisäer murren, dann billigt ihnen Lukas zu, dass sie die Handlung Jesu sehr richtig deuten und sich die Frage des rabbinischen Gleichniserzählers stellen. Gott ist bei den Sündern. Warum nicht bei uns? Ich denke, dass Lukas ihnen die selbe Antwort geben würde wie der Gleichniserzähler: weil sie im Bereich des Vaters sind, jene aber unmündig, bedroht und auf sich allein gestellt.

Dr. Hans Rapp ist Leiter des Katholischen Bildungswerkes Vorarlberg im Diözesanhaus in Feldkirch.