Wir beraten

Auf dem falschen Platz – so was von peinlich   

Hanspeter Ernst zum Evangelium am 22. Sonntag im Jahreskreis: Lk 14,1.7–14 SKZ 31-32/2010

Wer sitzt neben wem? Gewiss, wenn alle geladenen Gäste einander nicht kennen und der Anlass ein gewöhnliches Fest ist, ist es noch relativ einfach. Denn da haben alle die gleichen Voraussetzungen. Man setzt sich am ehesten neben eine Person, die einem irgendwie entspricht. Schwieriger ist es, wenn die einen sich kennen, die anderen nicht. Da kann es schon vorkommen, dass jemand aussen vor bleibt. Wenn alle sich kennen, dann ist es Pech, wenn man ausgerechnet neben Personen zu sitzen kommt, mit denen man Mühe hat. Solche Situationen sind nicht angenehm. Deshalb tun Gastgeber und Gastgeberinnen gut daran, eine Sitzordnung festzulegen. Doch auch das ist nicht immer einfach. Je nach der Art der Einladung ist es eine Wissenschaft für sich. Es braucht dafür eigens spezialisierte Personen. Sie kennen die Gepflogenheiten, die ungeschriebenen Gesetze und Konventionen und … und … Es ist also alles andere als erstaunlich, dass der richtige Platz für Gastgeber und für Gäste manchmal ein Problem ist.

Mit Lukas im Gespräch

«Und es geschah, als er an einem Sabbat in das Haus eines angesehenen Pharisäers zum Essen kam, dass man ihn sehr genau beobachtete» (Lk 14,1). Diese Eröffnung ruft die Erinnerung an zwei vorausgehende Ereignisse wach: In Lk 7,36 und Lk 11,37 wird erzählt, dass Jesus zu Gast beim Essen bei Pharisäern ist. Bei beiden Gelegenheiten eckt Jesus durch sein Verhalten an, und die Pharisäer müssen sich von ihm einiges bieten lassen. Deshalb kann man nur gespannt sein, zu welcher Provokation es hier kommt. Auffallend ist, dass Jesus bei einem der führenden Pharisäern zu Gast ist, also bei einer angesehenen und mächtigen Person, auffallend auch, dass er beobachtet wird. (Es folgt die von der Perikopen-Ordnung ausgelassene Heilung eines Wassersüchtigen.) Doch Jesus wird nicht nur beobachtet. Auch er beobachtet: Er sieht, wie die Geladenen die besten Plätze aussuchen. Er kleidet diesen Umstand in ein Gleichnis. Es ist peinlich, wenn man bei einer Hochzeit sich als Geladener einen guten Platz ergattert hat, den dann aber verlassen muss, weil dieser Platz vom Einladenden einem anderen vorbehalten ist. Die Lehre, die sich daraus ableiten lässt: Setz dich bei einer Einladung immer an den letzten Platz. Dann besteht die Chance, dass du einen besseren erhältst. Ist dieser Rat nicht banal? Denn wenn ihn alle berücksichtigen, dann gibt es ein Gerangel um den letzten Platz. Das nicht etwa, weil man diesen Platz will, sondern weil sich die Aussichten auf einen besseren wesentlich steigern lassen. So was nennt sich Berechnung. Was soll dann aber die abschliessende Sentenz: «Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden» (Lk 14,11)? Es ist doch keine Selbsterniedrigung, sich mit Absicht den untersten Platz auszusuchen. Das stinkt schon eher nach einer sklavischen Demut und vorauseilendem Gehorsam, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Die Person, die solches fordert, verfügt über ein hervorragendes Mittel, um über andere zu herrschen.

Damit rückt die Rolle des Gastgebers ins Zentrum. Von ihm heisst es, «dass er noch einen eingeladen haben könnte, der angesehener ist». Weil auch er sich an eine bestimmte Konvention zu halten hat, ist er gezwungen, Gäste anders zu platzieren – wobei er sich hüten wird, den falsch sitzenden Gast blosszustellen. Peinlich ist die Sache alleweil. Deshalb erstaunt es nicht, dass im Anschluss an diese Begebenheit eine Belehrung für den Gastgeber kommt: Wenn du einlädtst, dann lade nicht so ein, dass du auch wieder eingeladen wirst. Lade jene ein, die es dir nicht vergelten können: Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde. Es sind jene, die keinen Ort haben, weil sie sich auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Leiter befinden – was nicht heisst, dass es unter ihnen nicht auch eine hierarchische Ordnung geben kann. Aber hier geht es um den Gastgeber. Weil das Ansehen für ihn keine Rolle spielt und weil er auch keine Gegenleistung erwarten kann, ist er der Sorge enthoben, einen Fehler in der Sitzordnung zu machen. Die Einladung wird zum Ort, durch sie sind alle eingebunden und dem Gastgeber gleich nah. Es gibt keine Konventionen, gesellschaftliche Regeln und keine ungeschriebenen Gesetze, die missachtet werden könnten, wenn auf diese Art eingeladen wird.

Werden die Verse 7–11 durch diese Brille gelesen, dann erweist sich das Gerangel um den Platz als völlig überflüssig: Es gibt weder einen ersten noch einen letzten Platz. Die ganze soziale Hierarchie existiert nicht. Kein Gast wird beschämt, weil er falsch sitzt, kein Gastgeber ist gezwungen, jemanden anders zu platzieren. Auch die Aussage «wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden» ist nicht mehr als Aufforderung zu einer Sklavenmoral zu verstehen. Es ist nicht eine Forderung, die jemand an andere stellen kann. Sie steht jenseits aller Berechnung. Es geht nicht darum, sich zu erniedrigen, damit man erhöht wird. Es geht um einen Ortswechsel dessen, der einlädt. Denn mit einer Einladung, die mit keiner Gegenleistung verbunden ist, kann man sich selbst keine Lorbeeren verdienen. Dieser Gedanke lässt sich verdeutlichen: Jesus ist nicht bei einem x-beliebigen Pharisäer zu Gast. Es handelt sich vielmehr um einen bedeutenden, wichtigen Mann. Dieser soziale Status bringt es mit sich, dass er standesgemässe Einladungen machen muss. Und bei diesen Einladungen sollten auch keine Fehler in der Sitzordnung unterlaufen. Man weiss, was man sich schuldig ist. Gleichzeitig ist es aber auch eine Welt des Gerangels: Die Eingeladenen möchten wahrgenommen, zur Kenntnis genommen werden. Sie möchten ihren sozialen Status aufbessern, indem sie etwas vom Glanz des Gastgebers abbekommen. Genau diese Welt nimmt Jesus mit seinem Gleichnis ins Visier, verfremdet sie aber, indem er von einer Hochzeit erzählt. Vielleicht hat man sich sogar über diese Erzählung amüsiert. Bis man sich über die Konsequenzen klar wurde: Die Erniedrigung, von der Jesus spricht, hat ziemlich einschneidende, sichtbare soziale Konsequenzen.

Wie in den Schriften geschrieben steht

Es geht nicht darum, dass mit diesem Text die Pharisäer als Heuchler, schlechte Menschen oder was der Stereotypen noch andere sind, schlecht gemacht werden sollen. Denn sie teilen mit Jesus die grundlegende Einsicht, dass die Bescheidenheit, die Demut, die Selbsterniedrigung eine Haltung vor Gott ist. Wie die Armen, die bescheiden sein müssen, wollen sie überleben, so soll man vor Gott sein (vgl. z. B. Zef 2,3). Das ist eine Forderung. Aber Menschen unter sich dürfen dies nicht voneinander fordern. Sie sollen sich vielmehr in Bescheidenheit begegnen und einander gegenüber demütig sein. Von diesem Gedankengut ist die Weisheitsliteratur durchtränkt. Jesus deutet die Weisheit jedoch pointiert aus der Perspektive der materiell Armen, was Lukas bereits mit dem Gesang Marias, dem Magnifikat, deutlich gesagt hat: «Mächtige hat er vom Throne gestürzt, und Gedemütigte erhöht» (Lk 2,52). Sie, die Armen, stehen im Zentrum seines Denkens und Tuns. Ihnen zuerst gilt die Verheissung des Reiches Gottes, jenes Reiches, in dem alle eingeladen sind zum grossen Gastmahl und in dem man nicht um einen guten Platz kämpfen muss.