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Die Reise nach Jerusalem   

Peter Zürn zum Evangelium am 21. Sonntag im Jahreskreis: Lk 13,22–30 SKZ 31-32/2010

Woher stammt der Name des Kinderspiels «die Reise nach Jerusalem»? Manche vermuten aus der Zeit der Kreuzzüge, andere nennen die zionistische Migration nach Palästina und das begrenzte Platzangebot auf den Auswandererschiffen als Hintergrund. Es passt aber auch gut zu unserer Stelle im Lukasevangelium.

Mit Lukas im Gespräch

Der Beginn der Perikope lässt sich nämlich so übersetzen: «Und er [Jesus] wanderte durch Städte und Dörfer, lehrend und die Reise nach Jerusalem machend.» Dann fragt eine anonyme Stimme: «Sind es nur wenige, die gerettet werden?» Jesus antwortet mit dem Bild der engen Tür. Das Kinderspiel spitzt das zu: Nur eine/r kann gewinnen. Aber wer und warum? Diese Frage führt mitten hinein ins Lukasevangelium:
Thomas P. Osborne teilt das Lukasevangelium in vier Teile ein. Den ersten Teil nennt er: «Der Messias und sein Prophet angesichts der Erwartung des Volkes Israel» (Lk 1,5–7.50). Das Volk erwartet den Messias. Es wartet auf Rettung. Simeon und Hanna verkörpern diese Erwartung (2,25 und 38). Doch für welche Rettung steht der Messias Jesus, von dem Lukas erzählt? Das gilt es erst herauszufinden und zu lernen. Entsprechend beginnt dann im Lukasevangelium als zweiter und zentraler Teil der «Lernweg der Jesusjünger und -jüngerinnen» (8,1–19,10). Was sie lernen, ist praxisbezogen. Sie lernen, was es bedeutet, diesem Messias nachzufolgen. Am Anfang steht als Leitmotiv des Lernweges das Gleichnis vom Sämann (8,4–15). Samen wird ausgesät, drei Teile davon kommen nicht zur Reife, der vierte Teil aber bringt hundertfache Frucht. Im Kapitel 13 beginnt die letzte Etappe des Lernweges (13,10–19,10). Die Lehr- und Lernzeit nähert sich dem Ende, die Zeit der Entscheidung rückt näher. Sie fällt in Jerusalem. Der gesamte Lernweg ist eine Reise nach Jerusalem.
Die Frage, die in 13,22 gestellt wird, ist geprägt von der Erwartung oder Befürchtung, dass nur wenige gerettet werden. Die Frage überrascht an dieser Stelle. Sie steht im Kontrast zu den zwei vorhergehenden Reich-Gottes-Gleichnissen: dem Gleichnis vom Senfkorn, das zu einem Baum wird, in dessen Zweigen die Vögel des Himmels nisten, und dem vom Sauerteig, der einen grossen Trog Mehl durchsäuert (8,18–21). Diese Bilder atmen Weite und Fülle.
Der Lehr- und Lernweg scheint von einem anhaltenden Hin und Her geprägt zu sein. Auf den Weltenbaum folgt die enge Tür, auf den durchsäuerten grossen Trog Mehl, aus dem Brot für viele werden kann, folgt die verschlossene Tür – die sich dann doch wieder öffnet für die, die aus allen Himmelsrichtungen kommen. Schon zuvor folgte auf das Gleichnis vom Feigenbaum ohne Früchte, der eine letzte Frist von einem Jahr bekommt, die Erzählung von der Heilung einer Frau, die 18 Jahre lang auf Rettung wartete (13,6–17).
Der Lernweg lehrt offenbar keine eindeutigen und allgemeingültigen Antworten. Er lehrt vielmehr spannungsreiches, kontextgebundenes und prozessorientiertes Denken. Dieses Denken bleibt aber nicht unverbindlich. Es strebt auf eine Entscheidung zu. Allerdings nicht unbedingt auf die Entscheidung, die meine Ausgabe der Einheitsübersetzung als Überschrift über die Perikope wählt: «Verwerfung der ungläubigen Juden und Berufung der Heiden». Die Entscheidung, um die es hier geht, verläuft nicht entlang der Unterscheidung von Juden und Heiden. Trotzdem hat sie etwas mit der Herkunft zu tun. Zweimal heisst es in dieser Perikope: «Ich weiss nicht, woher ihr seid» (13,25 und 27). Das entscheidende Kriterium, um gerettet zu werden bzw. im Reich Gottes zu Tisch zu liegen, hat damit zu tun, woher jemand kommt, d. h., in welcher Tradition jemand steht bzw. in welche Tradition er/sie sich stellt. Diese Tradition wird auf zweifache Weise qualifiziert:
1. Es ist die Tradition von Abraham, Isaak, Jakob und allen Propheten (13,28) und
2. Es ist die Tradition des Tuns der Gerechtigkeit, denn es heisst: «Weg von mir, ihr habt alle Unrecht getan» oder genauer: «ihr Täter der Ungerechtigkeit» (13,27).

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Wer also vom Tun der Gerechtigkeit her kommt und sich damit in die Tradition der biblischen Vorfahren stellt, die bzw. der wird gerettet. Das Tun der Gerechtigkeit ist ein anderer Ausdruck für das Leben nach den Weisungen der Tora. Das ist zunächst nur dem Volk Israel möglich, denn nur ihm ist die Tora offenbart worden. Diese Partikularität ist aber spannungsreich mit Universalität verbunden: Durch Abraham sollen «alle Völker der Erde» Segen erlangen (Gen 12,3); «dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott», sagt die Moabiterin Rut (1,16); «lobet den Herrn alle Völker», betet Psalm 117; zum Berg Gottes strömen alle Völker, von dort «kommt die Weisung Gottes» (Jes 2,2–3).1
Dem Volk Israel ist die Tora Gottes zuerst gegeben worden. Die nichtjüdischen Menschen kommen neu dazu, sind «Letzte» im Vergleich zu Israel. Von Ersten und Letzten spricht Lk 13,30. Nicht alle Letzte werden Erste sein und nicht alle Erste Letzte. Nur manche. Entscheidend ist das Tun der Gerechtigkeit – entscheidend für Juden und für Heiden. Zu denen, die gerecht handeln, gehören sicherlich die Pharisäer, von denen im nächsten Vers die Rede ist (13,31). Sie kommen, um Jesus vor Herodes zu warnen, der ihn töten will. Das ist eine Tat der Gerechtigkeit, auch wenn sie Jesus nicht davon abhält, seine Reise nach Jerusalem fortzusetzen.
«Weg von mir, alle Täter der Ungerechtigkeit» – ist ein zusammengesetztes Zitat aus zwei anderen biblischen Schriften: In Ps 6,9 heisst es: «Weicht zurück von mir, all ihr Frevler». Ps 119,115 nimmt das auf und stellt dem Verhalten der Frevler gegenüber: «Ich will die Gebote meines Gottes befolgen.» Statt «Täter der Ungerechtigkeit» ist von Lk 13,27 auch die Lesart «Täter der Ungesetzlichkeit» überliefert, das 1 Makk 3,6 zitiert. Dort heisst es, dass die Täter der Ungesetzlichkeit aus Angst vor Judas mit dem Beinamen Makkabäus vergehen. Mit diesem Zitat rufen Jesus und Lukas die Erinnerung an die militärischen Aufstände in Israel und besonders in Jerusalem wach: den makkabäischen Aufstand gegen die hellenistische Herrschaft (2. Jh. v. u. Z.) und den zelotischen Aufstand gegen die römische Herrschaft, der zur Zeit Jesu seine Schatten voraus warf und eine Generation vor Lukas in der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems endete. Das ruft die Erwartungen des Volkes Israel an den Messias und die Rettung auf, mit denen Lukas beginnt (s. o.). Mit dem Messias Jesus ist kein Kriegszug nach Jerusalem zu machen. Er hat eine andere Reise nach Jerusalem vor. Jesus geht seinen Weg in der Tradition der Propheten, die dazu aufriefen, die Weisungen Gottes, die Tora, wieder neu zu befolgen, das heisst, zum Tun der Gerechtigkeit zurückzukehren. Sie haben sich dafür oftmals den Menschen und den ausgeliefert, wie es die Gottesknechtslieder beschreiben und beklagen. Von dorther kommt Jesus. Das gilt es auf dem Weg der Nachfolge zu lernen.


1 Vgl. die Auslegung zur alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags, Jes 66,18–21, von Winfried Bader unter dem Titel «Wer gehört dazu?» in SKZ 175 (2007), Nr. 33–34, 543.