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Warten – aber worauf?   

Dieter Bauer zum Evangelium am 19. Sonntag im Jahreskreis: Lk 12,35–40 SKZ 29-30/2010

Das Warten habe ich beim Militär gelernt. Weder vor noch nach meinem Militärdienst habe ich so viele Stunden mit sinnlosem Warten zugebracht. Aber ich habe dabei auch etwas gelernt: Wenn ich keine Möglichkeit habe, die Zeit des Wartens zu verkürzen, dann fülle ich sie wenigstens sinnvoll. Und wo mir Warten sinnlos erscheint, warte ich nicht mehr.
Das Warten ist auch Thema des heutigen Evangeliums. Doch hier im Lukasevangelium wird nicht sinnlos gewartet, sondern es ist klar, was kommt: «der Herr». Und es ist klar, was die Wartenden zu erwarten haben: eine Umkehrung aller Werte, eine Revolution der alten Hierarchien, wie sie bereits Maria im Magnifikat angekündigt hatte (Lk 1,46–55), den Sturz der Mächtigen und die Erhöhung der Niedrigen, die endgültige Befreiung von allen Mächten, die Menschen je erniedrigt haben.

«... was in den Schriften geschrieben steht»

«So aber sollt ihr es (das Paschalamm) essen, eure Hüften gegürtet ...», so lautet die Anweisung an die Hebräer, deren Auszug aus der Sklaverei unmittelbar bevorsteht (Ex 12,11). Als mit ihren jüdischen Wurzeln Vertraute hören die Leserinnen und Leser des Lukasevangeliums diese Exodusgeschichte mit, wenn der Evangelist seine Jesusgeschichte erzählt: «Eure Hüften sollen gegürtet und eure Lampen angezündet sein» (Lk 12,35). Wieder ist es Nacht – die angezündeten Lampen weisen darauf hin – wie in der Paschanacht: «Eine Nacht des Wachens war es für den Herrn, als er sie aus Ägypten herausführte. Als eine Nacht des Wachens zur Ehre des Herrn gilt sie den Israeliten in allen Generationen» (Ex 12,42). Jeder Jude weiss, was die durchwachte Paschanacht bedeutet: Der Herr hat über sein Volk gewacht und es «herausgeführt aus Ägypten, aus dem Sklavenhaus» (Ex 20,2). Nun wachen die Israeliten alljährlich zur Ehre dieses Herrn. Von dieser Beziehungsgeschichte zwischen Gott und Mensch, zwischen Befreier und Befreiten ist hier die Rede.
Der Auszug aus Ägypten ereignete sich unerwartet plötzlich in der Nacht. Auch die Auferstehung Jesu übrigens, den die Frauen am Morgen des dritten Tages auch schon nicht mehr finden werden, wird sich in der Nacht ereignen. Und die, die ihm nachfolgen, erst nach Galiläa, dann durch die ganze Welt, warten dann doch auf seine Wiederkunft, die das Glück vollkommen machen würde: «Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir» (Offb 3,20).
Wieder, wie beim Exodus, steht also die grosse «Wende» bevor. Das Schicksal der «Sklaven» wird sich wenden. Sie werden erhoben, und ihnen wird nun gedient werden. Das gemeinsame Mahl wird nicht einfach ein Mahl sein, sondern ein «Einsetzungsmahl», nämlich zur Einsetzung der ehemaligen Sklaven in ihre Menschenwürde: «Seid wie Menschen, die auf die Rückkehr ihres Herrn warten, der auf einer Hochzeit ist, und die ihm öffnen, sobald er kommt und anklopft. Selig die Knechte, die der Herr wach findet, wenn er kommt! Amen, ich sage euch: Er wird sich gürten, sie am Tisch Platz nehmen lassen und sie der Reihe nach bedienen» (Lk 12,36 f.).
Das Mahl als Zeichen der Gottesgemeinschaft ist der Bibel sehr geläufig. So ermöglicht der «Herr» des Exodus den Ältesten Israels diese Mahlgemeinschaft beim Bundesschluss auf dem Sinai: «Danach stiegen Mose, Aaron, Nadab, Abihu und die siebzig von den Ältesten Israels hinauf, und sie sahen den Gott Israels. Die Fläche unter seinen Füssen war wie mit Saphir ausgelegt und glänzte hell wie der Himmel selbst. Gott streckte nicht seine Hand gegen die Edlen der Israeliten aus; sie durften Gott sehen, und sie assen und tranken» (Ex 24,9–11). Diese Gottesnähe im gemeinsamen Mahl wird Jesus noch dadurch konkretisieren, dass er seinen Jüngerinnen und Jüngern beim Mahl «dient»: «Welcher von beiden ist grösser: wer bei Tisch sitzt oder wer bedient? Natürlich der, der bei Tisch sitzt. Ich aber bin unter euch wie der, der bedient» (Lk 22,27). Das Johannesevangelium wird als «Testament Jesu» statt der «Einsetzung des Abendmahls» mit der Fusswaschungserzählung eine Art «Bundesschluss» überliefern, ebenfalls eine «Einsetzung», nämlich die seiner Nachfolge¬gemeinschaft zu «Dienern» (Joh 13,1–20).

Mit Lukas und Paulus im Gespräch

Was zu Zeiten Jesu als Merkmal der Gottes«herrschaft» verkündigt und auch in der Gemeinschaft mit ihm erlebbar gewesen war – «Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Grösste unter euch soll werden wie der Kleinste, und der Führende soll werden wie der Dienende» (Lk 22,26) – sollte eigentlich in der Nachfolgegemeinschaft seiner Jüngerinnen und Jünger weitergelebt werden. Doch es scheint nicht allzu lange gedauert zu haben, bis es auch in den christlichen Gemeinden wieder «Herren» und «Diener» gegeben hat. Anders ist nicht zu erklären, warum das Lukasevangelium bereits ca. zwei Generationen nach Jesu Tod genau dieses wieder einschärfen muss, und zwar mit der Autorität von Jesusworten.
Andererseits war es natürlich auch nicht einfach, die Sprengkraft einer Botschaft, welche die Jüngerinnen und Jünger Jesu geradezu mitgerissen hatte, nach seinem Tod weiterhin am Leben zu erhalten. Zu offensichtlich und unumkehrbar war der Verlust des geliebten Menschen. Und alle Erinnerungsarbeit und Vergegenwärtigungsversuche, zu denen auch die Evangelien gehören, konnten die leibliche Anwesenheit Jesu nicht ersetzen. Und so scheint es schon sehr früh zur Erwartung einer Wiederkunft des «Herrn» gekommen zu sein. Bereits Paulus schreibt davon in seinem ältesten Brief: «Über Zeit und Stunde, Brüder (und Schwestern), brauche ich euch nicht zu schreiben. Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. (…) Darum wollen wir nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein» (1 Thess 5,1f.6). Und Lukas gebraucht dasselbe Bild: «Bedenkt: Wenn der Herr des Hauses wüsste, in welcher Stunde der Dieb kommt, so würde er verhindern, dass man in sein Haus einbricht. Haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet» (Lk 12,39 f.).
Natürlich liegen Welten zwischen dem Bild vom «Herrn», der kommt, um seinen Knechten zu dienen, und dem vom «Tag des Herrn», der droht wie der Dieb in der Nacht. Die erwartete Wiederkunft Christi hat Gerichtscharakter erhalten. Aus der «Ehrenwache» für den Herrn, der sich am Pascha als Befreier erwiesen hat, oder dem Wachen der Diener für einen Herrn, der sie überraschen wird dadurch, dass er ihnen ein Fest bereitet, ist das ängstliche und vor allem ständige Wachbleiben geworden für den Fall, dass überraschend ein Dieb kommt.
Abgesehen davon, dass es sinnvollere Methoden gibt, mit der Gefahr eines Einbruchs fertig zu werden, war Angst noch nie ein guter Ratgeber. Auf einen Menschen wie Jesus, der andere – und vor allem die, die es nicht erwartet haben – immer wieder mit einem Fest überrascht hat, warte ich gern. Diebe können mir gestohlen bleiben – und wenn noch so sehr mit dem erhobenen Zeigefinger auf sie hingewiesen wird!