Wir beraten

«Herr, lehre uns beten»   

Katharina Schmocker zum Evangelium am 17. Sonntag im Jahreskreis: Lk 11,1-13 SKZ 27-28/2010

Was veranlasst erwachsene Menschen, von denen wir mit einiger Gewissheit annehmen können, dass sie in einem – zumindest mehr oder weniger – religiösen Umfeld aufgewachsen sind, in einer Tradition, in der mehrmals täglich gebetet wird, Jesus zu bitten, sie beten zu lehren? Wollen die Freunde und Freundinnen Jesu richtig beten lernen? Vielleicht genügen Ihnen die traditionellen Gebetsformeln nicht mehr, um ihrer Gesinnung Ausdruck zu geben oder zur Bewältigung ihrer Erfahrungen.

«... was in den Schriften steht»

Der Jünger, der offenbar im Namen aller spricht, ergänzt seine Bitte mit dem Hinweis: «... gleichwie auch Johannes lehrte seine SchülerInnen». Das lässt vermuten, dass jede religiöse Strömung ihre eigene Art zu beten und ihre eigenen Gebete hatte und es so auch ein «richtiges» Beten geben konnte. Im Kontext, den Matthäus dem «Vaterunser» beiordnet, könnte dieser Fragestellung nachgegangen werden. Immerhin leitet hier Jesus das Gebet mit der Anweisung ein: «Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler», und: «So sollt ihr beten» (Mt 6,5.9). Auch der grössere Kontext gleicht einer Anleitung zum richtig gestalteten religiösen Leben.
In der Erzählung des Lukas hingegen weist nichts auf eine Belehrung hin. Jesus selbst betet und «wie er aufhörte, sprach einer seiner Schüler zu ihm: Herr, lehre uns beten» (Lk 11,1). Erst als Reaktion auf diese Aufforderung spricht Jesus das Gebet vor, und dies nicht mit der Einleitung «so sollt ihr beten», sondern schlicht: «(Immer) wenn ihr betet, sagt ...». Wurde den Fragenden damit nicht lediglich eine neue Gebetsformel anvertraut? Soll diese sogar alle anderen bisher verwendeten ersetzen? Haben sie dadurch etwa beten gelernt oder eben lediglich ein (neues) Gebet? Lukas lässt diesem einige Erwägungen Jesu folgen, bevor in Lk 11,14 die Szene wechselt. Allerdings handelt es sich wiederum nicht um Anweisungen, was beim Beten getan oder gelassen werden soll. Vielmehr scheint Jesus zu versuchen, seinem Publikum durch einige rhetorische Fragen erneut Hinweise auf das Wesen Gottes zu geben. Interessanterweise wird nicht zuerst das Bild vom treusorgenden Vater aufgegriffen, sondern vom Freund, der um Hilfe bei einem Engpass angegangen wird. Es geht nicht um eine bedrohliche Notsituation. Es könnte lediglich peinlich sein, dem – notabene überraschend und um Mitternacht – eingetroffenen Freund die Gastfreundschaft nicht in geziemendem Masse angedeihen lassen zu können. Es spielt auch offenbar keine Rolle, ob die Bitte aus Freundschaft erfüllt wird oder lediglich deshalb, damit der Gebetene wieder Ruhe hat. Auf diesem Hintergrund lässt sich vielleicht erklären, warum Lukas kein Vaterunser überliefert, sondern «sein» Gebet an den Vater gerichtet wird. Es geht möglicherweise gar nicht um den liebenden Vater, der nur das Beste für seine Kinder will – und der als Vorlage den Zugang zu Gott all denen erschwert oder verunmöglicht, die keinen solchen oder überhaupt keinen real existierenden Vater erleben. Mit dem adjektivlosen pater soll womöglich tatsächlich der Patriarch im antiken Verständnis angesprochen werden. Dieser ist nämlich nicht einfach Herr(scher) im Haus (kyrios), sondern als pater familias zuständig für das Wohlergehen aller, die zu seinem Haushalt gehören, unabhängig davon, ob er sie liebt oder nicht. Da Jesus zum Volk spricht, kann er den Spezialfall der Angst der Herrschenden vor dem Nachfolger und Konkurrenten ausser Acht lassen und getrost fragen: «Ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn eine Schlange gibt, wenn er um einen Fisch bittet, oder einen Skorpion, wenn er um ein Ei bittet?» (Lk 11,11f.). Selbst ein nachlässiger oder selbst ein abweisender Vater wird nicht mutwillig ein Mitglied des Hausstandes oder gar der Familie in Todesgefahr bringen. Mag sein, dass ihn nicht Führsorge oder Liebe davon abhalten, sondern lediglich die Vernunft, die ihm sagt, dass er mit einem solchen Verhalten letztlich sich selbst oder zumindest seinem Ruf schadet. Diese Spannbreite von Liebe bis berechnender Vernunft als Motivation für konkretes Handeln existiert unabhängig von Zeit und Raum, also Kultur, sie ist so grundmenschlich, dass nach diesen Überlegungen der folgende Satz seine individual-moralische Note verliert: «Wenn nun ihr, die ihr schlecht (poneros: untauglich, unbrauchbar, böse) seid, wisst, gute Gaben zu geben euren Kindern, um wie viel mehr wird der Vater aus dem Himmel geben heiligen Geist den ihn Bittenden.»

Mit Lukas im Gespräch

Hoppla, noch einmal ein Stolperstein. Nicht genug, dass den «schlechten» Menschen nicht der «gute, liebe» Gott gegenübergestellt wird, sondern lediglich der Vater aus dem Himmel. Er wird darüber hinaus auch nicht geben, worum sie ihn bitten, sondern in jedem Fall heiligen Geist. Oder ist das etwa dasselbe? Vielleicht kann ein Rückgriff auf das Gebet Jesu, das er seine Jüngerinnen und Jüngern gelehrt hat, diese Frage beantworten. Die Verben in den ersten zwei «Bitten» stehen nicht im Konjunktiv oder Optativ Futur, es geht also nicht um etwas, das sich möglicher- oder wünschenswerterweise in Zukunft ereignen könnte oder sollte. Sie stehen im Imperativ Aorist, das heisst, es wird eine jetzt bereits erwünschte Realität sein, dass Gottes Name geheiligt und sein Reich kommend sein wird. Es handelt sich damit nicht eigentlich um Bitten. Es sind Wünsche, deren Erfüllung zwar noch aussteht, die aber die Zuversicht spiegeln, dass sie sich erfüllen werden. Das dies durch das Wirken des heiligen Geistes geschieht, ist nachvollziehbar. Bleiben die Bitten um Brot, Vergebung und um Nicht-in-Versuchung-geführt-werden. Finden diese in der Gabe des Heiligen Geistes eine Entsprechung? Vielleicht ist Jesu Gebet an den Vater, das er seine Jüngerinnen und Jüngern lehrt, einfach ein Synonym seiner Aufforderung: «Sucht nicht, was ihr essen sollt und was ihr trinken sollt und beunruhigt euch nicht. ( ...) euer Vater aber weiss, das ihr dessen bedürft. Jedoch sucht sein Königtum, und dieses wird euch hinzugelegt werden» (Lk 12,29-31). So hätte Jesus sie damit nicht ein(e) Gebet(sformel),sondern wie gewünscht beten gelehrt.

Dr. Katharina Schmocker Steiner ist zurzeit in der Administration im Zürcher Lehrhaus – Judentum Christentum Islam tätig.