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Wo ist der Ort Gottes?   

Hans Rapp zum Evangelium am 15. Sonntag im Jahreskreis: Lk 10,20–35 SKZ 26/2010

Als Primarschüler war es für mich völlig klar, dass die Kirche in Stein am Rhein der Ort war, an dem Gott wohnt. Genau im Tabernakel wohnte er. So hatte ich es im Religionsunterricht gelernt. Diese Kirche war auch in besonderer Weise mit meiner Familie verbunden. Die arme kleine Diasporagemeinde hatte sie 1911 mit grossem Einsatz erbaut, und meine Gotte, so wurde mir gesagt, war das erste Kind, das darin getauft worden war. Seit ich mich eingehender mit theologischen Fragen beschäftigt habe, hat sich das relativiert. Ich habe gelernt, dass Gott auch an anderen Orten sein kann.

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Die Parabel vom barmherzigen Samariter gehört wohl zu den bekanntesten Texten des Neuen Testaments. Jesus begründet darin die Untrennbarkeit von Gottes- und Nächstenliebe und der Diakonie als zentralen Glaubensvollzug der Kirche. Wenn hier das Evangelium im Dialog mit dem Judentum gelesen werden soll, ergibt sich ein ganzes Feuerwerk von zeitgeschichtlichen Bezügen. Es geht aber auch um eine noch viel grundsätzlichere Frage: Wie hat Jesus selbst – vermittelt durch den Evangelisten Lukas – die Heiligen Schriften verstanden?
Ein Schriftgelehrter fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen. Mit dieser Frage stellt er bereits eine ganz wichtige Weiche für den Text: Es geht um das Tun. Das ewige Leben entscheidet sich darin, wie das Leben im Hier und Jetzt gestaltet wird. Jesus stellt zwei Rückfragen: «Im Gesetz – was ist geschrieben? Wie liest du?» Die Frage Jesu geht auf den Inhalt der Tora und deren Auslegung hin. Der Schriftgelehrte antwortet mit einem Zitat und beantwortet damit nur die erste Frage Jesu: die nach dem «Was». Jesus gibt ihm recht und fordert ihn auf, diesem «Was» entsprechend zu handeln. Die Frage und die eigene Antwort sind dem Schriftgelehrten offensichtlich reichlich banal vorgekommen. Er verteidigt sich durch eine neue Frage: «Und wer ist mein Nächster?» Das Spannende ist eben die Frage, wie etwas in der Tora gemeint ist. Auf diese Frage antwortet Jesus mit der Erzählung vom barmherzigen Samariter.
Das Schriftzitat in Lk 10,27 steht so nicht in der Tora. Der Schriftgelehrte kombiniert zwei Sätze aus zwei unterschiedlichen Büchern. «Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.» Dieses Zitat stammt aus dem biblischen «Shema Yisrael» aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 6,5). Es ist im Judentum eines der ganz wichtigen persönlichen und gemeindlichen Gebete. Es ist auf einem Pergament in den Tefilin (Gebetskapseln) und Mesusot (Kapseln an den Türstöcken) enthalten. Wenn der Gesetzesgelehrte diesen Satz zitiert, spricht er einen Grundkonsens aus, der im damaligen Judentum ebenso Geltung hatte wie im heutigen, und den wohl auch alle Christinnen und Christen ohne Bedenken unterschreiben würden. Der andere Text stammt aus dem Buch Levitikus: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» (Lev 19,18). Gottes- und Nächstenliebe stehen auf einer Stufe. Sie bilden für den Gesetzeslehrer die «Mitte der Schrift», ihr Herz und ihr Zentrum. Sie stellen das Verhältnis des Menschen zu Gott auf dieselbe Stufe wie das Verhältnis des Menschen zum Nächsten. Wichtig ist mir, dass es der jüdische Schriftgelehrte ist, der diesen Zusammenhang zwischen Gottes- und Nächstenliebe herstellt. Lukas denkt gar nicht daran, ihn als jesuanisches Spezifikum darzustellen.
Jesus radikalisiert die Frage nach dem Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe durch seine auslegende Erzählung. Sie ist sowohl formal als auch inhaltlich ein Meisterstück. Gerade weil sie so vieldeutig ist. Die Form der Erzählung ist klassisch. Zwei – Priester und Levit – gehen vorbei, der dritte bleibt stehen. Klassisch ist, dass die Handlung des dritten die unerwartetste ist. Samaritaner, insinuiert die Erzählung, sind doch das Allerletzte. Allerdings: Wenn man Märchen kennt, weiss man spätestens nach der zweiten Person, die vorbeigegangen ist, dass die dritte stehen bleiben wird. Auch wenn er der Samaritaner ist. Nach dem Priester und dem Leviten würde man erwarten, dass ein israelitischer Laie vorbeikommt. Dieser aber fehlt. Ich nehme an, dass Lukas diese Rolle im sozialen Gefüge Israels bewusst auslässt. So können sich die Leserin und der Leser in diese Situation begeben: Wie hätte ich gehandelt?

Im Gespräch mit Lukas

Als ich die Erzählung vom barmherzigen Samariter für mich übersetzt habe, bin ich am Wort «topos» – Ort – hängengeblieben. Es wird in diesem Text nur einmal verwendet. Lukas schreibt: «Auch ein Levit kam zu dem Ort; er sah ihn und ging weiter» (Lk 10,32). Mir ist spontan die Erzählung von Jakobs Traum in den Sinn gekommen (Gen 28,10–22). In dieser Erzählung gelangt Jakob auf der Flucht vor seinem Bruder Esau zu einem «Ort». Im Traum sieht er eine Leiter vom Himmel zur Erde reichen, auf der Engel auf- und absteigen. Oben steht Gott. Er verheisst Jakob eine Zukunft und Nachkommenschaft. Am darauffolgenden Morgen stellt Jakob eine Stele auf, weiht sie und nennt den «Ort» Bet-El, Haus Gottes, weil an dieser Stelle die «Säule des Himmels» steht, wie es die Septuaginta formuliert. Die andere Erzählung über den heiligen Ort ist Ex 3,5, die Erzählung vom brennenden Dornbusch. Hier spricht Gott zu Mose: «Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.» In der rabbinischen Literatur ist «Ort» (hebräisch: maqom) ein Name Gottes geworden, der für das Tetragramm JHWH verwendet wird. Ich fragte mich: Ist auch der «Ort» bei Lk 10,32 ein Ort Gottes? In den meisten Belegen im Lukasevangelium steht dieser «Ort» mit Jesus und seinem Wirken in Verbindung. Er erscheint etwa im Zusammenhang mit dem Ort der Geburt: Es gab für die Familie keinen Platz in der Herberge (Lk 2,7). Ein «topos» ist auch die Schriftstelle aus Jes 61,1–2, die Jesu in der Synagoge von Nazareth vorliest und auslegt und die seine Mission vorzeichnet (Lk 4,17). Der Ruf Jesu verbreitet sich an jeden Ort der Umgebung (4,37). Werden diese Orte durch die Präsenz Jesu zu «Orten» Gottes? Ebenfalls ein «topos» ist der Ort, an dem Jesus seine Seligpreisungen spricht (Lk 6,17) und wo er das Herrengebet weitergibt (Lk 11,1). Ein «topos» ist schliesslich auch der Ort der Kreuzigung (Lk 23,33): «Und dann kamen sie zum Ort, der Kranion genannt wurde», so die griechische Formulierung. Mir scheint, dass Lukas das Wort «Ort» sehr bewusst für die Anwesenheit Gottes verwendet. Im lukanischen Kontext: Gott ist für ihn dort anwesend, wo Jesus das Reich Gottes tut. In der jüdischen Tradition wird das durch den Begriff des Wohnens Gottes – Shekhina – bezeichnet. Der Ort, wo der Verwundete und Hilfsbedürftige liegt, ist der «Ort Gottes», weil sich dort im Tun die Tora erfüllt. Das macht es so provokant, dass Priester und Levit einen Bogen um diesen Ort machen. Sie machen in der Parabel einen Bogen um Gott selbst, wenn sie den «Gottesdienst» über die Nächstenliebe stellen!

Dr. Hans Rapp ist Leiter des Katholischen Bildungswerkes Vorarlberg im Diözesanhaus in Feldkirch.