Wir beraten

Lukastagebuch Teil 2   

Zacharias, der Engel und das ganze Volk Israel Lk 1,5-25

Der Text in der Einheitsübersetzung

11. Juni

«Egeneto en tais hämerais» – Es geschah in den Tagen... (Lk 1,5)

(pz) So beginnt die eigentliche Erzählung des Lukasevangeliums. Wenn ich meinem Sohn eine selbst erfundene Geschichte erzähle, dann hat die manchmal auch eine Art Vorwort. Wir verständigen uns zum Beispiel darauf, wer in der Geschichte vorkommt. Meistens ist mein Sohn dabei und dazu einige seiner Kuscheltiere. Die eigentliche Geschichte beginnt dann immer mit dem Ausdruck «eines Tages». Eines Tages – das ist ein Signal und zugleich eine Art Zauberwort. Es verzaubert die Situation, in der ich mich mit meinem Sohn befinde, es erhöht unsere Aufmerksamkeit und unsere Spannung, denn: Jetzt geht es richtig los. Es verzaubert aber zugleich auch die Situation in der Geschichte. Jetzt wird aus den unendlichen Möglichkeiten, die sich meinem Sohn und seinen Tieren bieten, eine einzige ausgewählt. Sie bekommt eine ganz besondere Bedeutung. Sie unterscheidet sich jetzt von allen anderen Möglichkeiten. Sie ist die einzige Möglichkeiten, die jetzt noch eine Rolle spielt. Um diese eine Möglichkeit geht es jetzt ganz entscheidend. Wenn ich so darüber nachdenke, dann tritt noch ein dritter Zauber in Kraft. Die eine entscheidende Möglichkeit der Geschichte wirkt wiederum verzaubernd zurück in das Leben meines Sohnes und in meines. Unausgesprochen klingt an, dass es in unserem Leben genauso ist. Dass wir in jedem Moment aus der unendlichen Weite der Möglichkeiten eine auswählen, die so zur alles entscheidenden Wirklichkeit wird. «Eines Tages» ist immer heute, jetzt.

12. Juni

(pz) Lk 1,5-2,52: Der Kommentar zur Einheitsübersetzung, der in meiner Bibelausgabe (der Jerusalemer Bibel) unter dem Text angegeben ist, schreibt, dass Lukas in diesem Abschnitt «das stark semitisch gefärbte Griechisch der Septuaginta» verwendet. Das Ganze trage «ein altertümliches Gepräge». Vielleicht verwendet Lukas hier «aramäische Quellen». Er will offenbar das Milieu der sogenannten «Armen» bzw. der «Gedemütigten» darstellen, die in der Bibel eine besondere Rolle spielen. Beim Propheten Zefanja 2,3 werden diese Armen/Gedemütigten (hebräisch anawim) erwähnt. Es sind die prophetischen Schriften der Bibel allgemein, die sich auf die Seite der Armen stellen und Gerechtigkeit für sie einfordern. Sie benennen sie als die Bedrängten (anijjim), die Geringen (dallim) und die Notleidenden (ebjonim). Offensichtlich waren Israel und Juda in der Königszeit sozial ungerechte Gesellschaften. Der Wohlstand war ungleich verteilt, wenigen Reichen standen Massen von Armen gegenüber. Das Deuteronomium reagiert darauf mit seiner Armengesetzgebung (Dtn 24). In der persischen und hellenistischen Zeit (zu der Zefanja gehört) wird der Ausdruck «Armer» immer mehr zu einem moralischen und theologischen Begriff. Arm ist, wer dem Willen Gottes ergeben ist. Arm wird mit Uneigennützig gleichgesetzt. Ausserdem wird der Ausdruck jetzt auch mit endzeitlicher Bedeutung versehen: Zu diesen Armen wird der Messias kommen. Er wird selbst sein wie sie, demütig, friedfertig, ja sogar ein Gebeugter und Geschlagener. Dieses Verständnis der Armen hat die griechische Bibelübersetzung Septuaginta geprägt. Wichtige Bibelstellen sind Jes 57,14-21; Jes 61; Ps 22,25-27; Ps 37,11ff.; Sach 9,9. Die Bergpredigt im Mt- und die Feldrede im Lk-Evangelium sind von dieser Armen-Theologie geprägt (Mt 5,3; Lk 6,20). In diesem Milieu beginnt also die Geschichte, die Lukas erzählen will. In diesem Milieu spielen die ersten 2 Kapitel, die eine Art Ouvertüre des Evangeliums darstellen, die wie alle Ouvertüren gleichsam programmatischen Charakter für das gesamte Werk hat.

13. Juni

(pz) Das Lukasevangelium hat eigentlich zwei Erzählanfänge: Lk 1,5 und Lk 3,1. Man könnte von einer Art Vorgeschichte und der eigentlichen Geschichte sprechen, wenn man mit Vorgeschichte nicht etwas weniger Wichtiges, sondern – wie bereits erwähnt – eine Art Ouvertüre, also etwas Programmatisches meint. Vergleicht man dann die beiden Anfänge, so fällt auf: Lk 3,1-2 ordnen die beginnende Geschichte in die Weltgeschichte ein: «Es war im 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius... " – die Geschichte spielt also im Rahmen des römischen Imperiums mit seinen verschiedenen kleineren und grösseren Machtzentren. Anders Lk 1,5. Hier bleibt alles im Rahmen des jüdischen Volkes. Und es spielt im Rahmen der beiden Machtpole, die die staatliche Geschichte Israels prägten und die wiederum viele biblische Bücher geprägt haben: die Spannung zwischen Königtum und Tempel, zwischen der könglichen und der priesterlichen Macht. Herodes verkörpert das Königtum, Zacharias das Priestertum. Die Priesterklasse, der er angehört, die Abijas (vgl. 1 Chr 24,10) verweist auf die Einteilung der Priesterklassen nach Aaron insgesamt. Lukas bleibt aber nicht dabei stehen. Er geht über diese historisch bekannte Polarität hinaus und führt zunächst Elisabet ein, eine Frau aus dem Geschlecht Aarons. Was bedeutet das?

Eigentlich ist die Frage eine Doppelfrage. Warum Elisabet? und warum aus dem Geschlecht Aarons?
Zuerst zum ersten Teil der Doppelfrage:
Der Prolog des Lukasevangeliums, seine Ouvertüre, seine programmatischen Anfangskapitel spielen innerhalb des Judentums. Die folgende Geschichte, d.h. das gesamte Evangelium, ist im Rahmen des Judentums zu lesen und nur so zu verstehen. Lukas schreibt und setzt die innerjüdische Geschichte fort, die in der Bibel – seiner Bibel, unserem Alten Testament – reflektiert und gedeutet wird. Es geht um die Geschichte Gottes mit diesem Volk und darum, ob und wie dieser Weg in Beziehung weitergeht.
So weit so klar – wenn auch noch nicht in allen Konsequenzen für das christliche Verständnis des Lukasevangeliums zu Ende gedacht.
Aber dann: Warum Elisabet aus dem Geschlecht Aarons?
Als Lukas sein Evangelium schreibt, ist der Tempel in Jerusalem zerstört, die jüdischen Priester sind Vergangenheit. Als Lukas sein Evangelium schreibt, hat die messianische Hoffnung auf eine Wiederherstellung des jüdischen Königtums in Israel zur Katastrophe des Krieges gegen die Römer geführt. Der jüdische Weg in der Zukunft soll offenbar nicht mehr der Weg des Königtums und nicht mehr der Weg des Tempels sein. Hier stimmt Lukas mit der Mehrheit des Judentums überein – bis heute. Aber während das Königtum – mit Herodes – ganz abgewirtschaftet hat, gehen vom Tempel und der Priesterschaft noch Impulse für die Zukunft aus. Aus der Verbindung zwischen dem Tempelpriester Zacharias und Elisabet aus dem Geschlecht Aarons, von dem im biblischen Denken alle Priester abstammen, wird ein neuer Anfang, eine neue Verheissung, ein neuer Weg entstehen. Dieser Weg wird zurück führen zu den Anfängen des Volkes – in die Wüste und an den Jordan, dorthin wo das Leben im verheissenen Land begann. Es wird ein Neuanfang sein, der an die früheren Anfänge anknüpft, sie vergegenwärtigt unter den neuen Bedingungen. Er wird uralt und völlig neu zugleich sein. Wie jedes neugeborene Kind.

Bei Gerhard Jankowski, In jenen Tagen. Der politische Kontext zu Lukas 1-2 in Texte und Kontexte 12/1981 findet sich eine etwas anders akzentuierte Deutung zum Anfang der Erzählung in Lk 1,5: «Wie die folgende Geschichte zeigt, geht es hier nicht so sehr um eine Datierung als um eine Konfrontation: der Priester und mit ihm der Tempel stehen gegen den König. Das erklärt sich daraus, dass zu jener Zeit nicht der König, das Haus des Herodes, die bestimmende Macht unter den Juden ist, sondern der Tempel und das Haus aharon. Das eigentliche «Datum», das Lukas an dieser Stelle mitteilt, ist, dass der Tempel und das Haus Aharon in jenen Tagen den König als führende Macht abgelöst haben. Im weiteren ist deswegen nur noch vom Tempel und dem Priester die Rede, nicht aber vom König. Und der Tempel blieb die führende Macht bis zum Ende des Krieges. Für Lukas hat aber auch der Tempel seine alles beherrschende Stellung verloren, denn er sieht in Johannes den letzten Vertreter des Hauses Aharon, der schon nicht mehr vom Tempel aus agiert und der abgelöst wird vom Messias aus dem Haus David. Wie Apg 2 und 7,48 zeigen, ist dies sicher gesagt, gegen Restaurationsbestrebungen, die nach dem Krieg versuchten, den alten Zustand wieder herzustellen.» (S. 10)
Jankowski sieht den Bruch mit dem Tempel bei Lukas radikaler als ich. Er sieht den Tempel ausschliesslich als Vertreter der herrschenden Mächte, in einer Reihe mit dem Kaiser und König Herodes. Ich sehe noch etwas anderes im Tempel verkörpert. Auch deswegen räumt ihm Lukas so viel Raum ein. Nicht im Sinne einer Restauration, da bin ich mit Jankowski einig.

14. Juni

(pz) Ist Elisabet im Lukasevangelium das Pendant zu den fünf Frauen im Stammbaum Jesu im Matthäusevangelium? Genauer: Bei Matthäus sind es fünf Frauen – bei Lukas 2, Elisabet und Maria. Die beiden sind ganz eng aufeinander bezogen – sie sind in der Sprache der Erzählung verwandt. Die programmatischen Anfangskapitel des Lukasevangeliums stellen die beiden Frauen ins Zentrum – bei Matthäus ist es in den entsprechenden Kapiteln Josef. Was verbindet Elisabet und Maria? Welche Bedeutung hat dieses weibliche Paar für das Programm des Lukasevangeliums?

Elisabet und Maria werden beide unter besonderen Umständen schwanger. Lukas ruft damit die Erinnerung an zahlreiche biblische Personen und Geschichten wach. Elisabet, unfruchtbar und schon in vorgerücktem Alter und dann doch noch ein Kind – wie Sara im Buch Genesis oder Hanna im ersten Buch Samuel. Maria, schwanger unter merkwürdigen Umständen – wie die namenlose Mutter des Simson im Buch der Richterinnen und Richter oder Tamar in Genesis 38. Was verbindet all diese Geschichten, was verbindet all diese Frauen? Die Erfahrung, dass sich die lebenschaffende Kraft Gottes nicht immer auf die erwartete Weise zeigt, dass das, was dem Leben gerecht wird, nicht immer nach den herrschenden Massstäben und dem geltenden Recht abläuft, dass es mitunter das Vertrauen in das eigentlich ganz und gar Unmögliche braucht – wozu die Bereitschaft gehört, sich in den Augen anderer ganz und gar unmöglich zu machen.
Dieses Vertrauen ist in der Bibel auch mit Männern verbunden – Abraham ist ein Beispiel dafür – aber stärker, einprägsamer, aber mit Frauen. Sie verkörpern ja durch ihr Geschlecht in der herrschenden patriarchalen Welt auch stärker die Alternative zum herrschenden System, die Gott offenbar am Herzen liegt.
Lukas schreibt diese biblische Geschichten fort. Elisabet und Maria sind in seinen programmatischen Anfangskapiteln ganz stark mit der heiligen Geistkraft, die hebräisch ruach heisst und meistens als feminine Form auftritt, verbunden. Ich gebrauche hier den Ausdruck Geistkraft, weil die Vorstellung des Heiligen Geistes in männlicher Form auf die völlig falsche Spur führt. Maria ist von dieser Geistkraft überschattet (Lk 1,35). Sie ist die Ursache, die Quelle ihres Kindes – und kein Mann, wie das nach den herrschenden Vorstellungen zu erwarten wäre, hat etwas damit zu tun – auch nicht der Geist als Ersatz-Mann. Elisabet ist von der Geistkraft erfüllt (Lk 1,41) und dadurch fliesst der Segen über Maria aus ihr. Als wir in einem Bibliolog die Begegnung zwischen Maria und Elisabet mit unserem weissen Feuer füllten, da sprach Elisabet von ihrer Überraschung darüber, was da aus ihr herausgeflossen war. Sie hatte es nicht «gemacht». Sie hatte wie dieProphetinnen und Propheten erlebt, wiees ist, das Wort Gottes zur Welt zu bringen. Der Segen Elisabets über Maria war wie eine Geburt – eine weitere Jungfrauengeburt. Wir standen ehrfürchtig vor der fruchtbaren Liebesbeziehung zwischen Maria und Elisabet.
Maria knüpft an die prophetische Rede Elisabets an und weitet den intimen Raum für das scheinbar Unmögliche, das die herrschenden Verhältnisse sprengt, ja umkehrt, ins Globale, Politische: «Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen, die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen» (Lk 1,52-53). Elisabet segnet die, die glaubt, dass sich erfüllt, was Gott ihr sagen liess (1,45). Maria weitet das aus auf das gane Volk Israel: «Er denkt an sein Erbarmen, dass er unseren Vätern und Müttern verheissen hat» (1,55).

Immer noch offen ist aber die Frage nach Elisabet aus dem Geschlecht Aaraons. Warum Aaron? Warum betont Lukas diese Verbindung hier so ausdrücklich? Ein Blick in die Konkordanz zum Stichwort «Aaron» bringt ein überraschendes Ergebnis. In Ex 6,23 heisst es im Rahmen des Stammbaumes von Mose und Aaron: «Aaron nahm Elischeba, die Tochter Amminadabs, die Schwester Nachschons zur Frau». Beide Männer finden sich übrigens in den Stammbäumen Jesu bzw. Josefs in Lk und in Mt 1. Elisabet bzw. Elischeba, in der hebräischen Variante des Namens ist also zugleich die Nachfahrin und die Ehefrau Aarons. Über den Namen Elisabet wird die Geschichte Aarons gleichzeitig. Und die Geschichte Aarons, das ist in erster Linie die Geschichte des Exodus. Der Stammbaum Mose und Aarons im Buch Exodus wird folgendermassen abgeschlossen: «»Das waren also Aaraon und Mose, zu denen der Herr gesagt hat: Führt die Israeliten aus Ägypten und übernehmt dabei die Leitung der Scharen! Die beiden waren es, die mit dem Pharao,dem König von Ägypten, reden und die Israeliten aus Ägypten herausführen sollten, Mose und Aaron» (Ex 6,26-27). Mose und Aaron gleichberechtigt nebeneinander stehen für den Exodus. Und mit Maria, der Mutter Jesu, die ja hebräisch Mirjam heisst, spielt Lukas dann auch noch die dritte im Bunde der Befreiung ein, Mirjam, die Schwester Moses und Aarons. In den programmatischen Anfangskapiteln des Lukasevangeliums ist also der Exodus von Anfang an präsent.

15. Juni

«Beide lebten so, wie es in den Augen Gottes recht ist und hielten sich in allem streng an die Gebote und Vorschriften des Herrn» (Lk 1,6)

(pz) Der Vers, der von Zacharias und Elisabet handelt, hat ausser den beiden Subjekten noch andere Dopplungen: leben, wie es in den Augen Gottes recht ist und sich streng an die Gebote und Vorschriften halten, ist offensichtlich nicht genau das Gleiche. Die Dopplung eröffnet einen Spielraum. Es kann möglich, besser nötig sein, sich nicht zu streng an die Gebote zu halten, um so zu leben, wie es in den Augen Gottes recht ist. Die Bibel erzählt viele Geschichten davon, etwa von Tamar in Gen 38. Das wertet die Gebote nicht ab, sondern macht deutlich, dass sie in Freiheit ausgelegt werden wollen und nicht sklavisch befolgt. Ausserdem ist eben von Geboten und Vorschriften die Rede. Vielleicht klingt hier schon eine Unterscheidung an, die im späteren Judentum gemacht wurde. Das Judentum hat die biblischen Weisungen genau gezählt und kam auf insgesamt 613 Regeln, darunter 248 Gebote und 365 Verbote.

16. Juni

«Eines Tages, als seine Priesterklasse wieder an der Reihe war und er beim Gottesdienst mitzuwirken hatte, wurde, wie nach der Priesterordnung üblich, das Los geworfen, und Zacharias fiel die Aufgabe zu, im Tempel des Herrn das Rauchopfer darzubringen. Während er nun zur festgelegten Zeit...» (Lk 1,8-10a).

(pz) Drei Verse, die zeigen, welch grosse Aufmerksamkeit Lukas dem Tempeldienst und seinen Ordnungen widmet. Warum? Als das Evangelium entsteht, ist dieser Tempel zerstört, es findet kein Tempelgottesdienst, kein Rauchopfer mehr statt, es gibt keine Priester mehr. Er ist bis heute nicht mehr aufgebaut worden. Das Judentum hat nach anderen Orten gesucht, an denen Gott gegenwärtig ist. Warum räumt Lukas dem Tempeldienst trotzdem einen solch grossen Raum zu Beginn seiner programmatischen Kapitel ein?
Der Rauchopferaltar, an dem Zacharias Dienst tut, ist in Ex 30,1-10 genauer beschrieben: seine Masse, sein Aussehen (mit Hörnern), sein Material (Akazienholz), seine Oberfläche (Gold), seine Tragstangen, denn es handelt sich um einen mobilen Altar, seinen Standort vor dem Vorhang vor der Bundeslade (genauer: vor ihrer Deckplatte), der Dienst an ihm (morgenliches und abendliches Opfer, «immerwährend von Generation zu Generation»), seine Besonderheit (kein unerlaubtes Rauchopfer, kein Brand- oder Speise- oder Trankopfer), seine besondere Funktion für die Sühne der Sünden einmal im Jahr am Versöhnungstag (»an seinen Hörnern», ebenfalls «von Generation zu Generation»). Zweimal wird der Rauchopferaltar besonders mit Gott verbunden: «Etwas Hochheiliges ist er für den Herrn» (Ex 30,10) und «Dort will ich mich dir offenbaren» (Ex 30,6b).

Der Rauchopferaltar spielt also eine besondere Rolle am Versöhnungstag. Der Versöhnungstag ist das Zentrum, der Höhepunkt des jüdischen Festjahres. Die Beschreibung dieses Versöhnungstages in Lev 16 ist die Mitte der Tora. Die Möglichkeit, dass sich Menschen mit Gott versöhnen könne, dass sie ihre Beziehung zu Gott wieder in Ordnung bringen können, darum dreht sich alles. Zu Zeiten des Tempels war der Versöhnungstag der einzige Tag, an dem der Hohepriester das Allerheiligste des Tempels, wo die Bundeslade steht – die Mitte des Tempels. Das Judentum hat am jährlichen Versöhnungstag festgehalten bis heute – auch ohne Tempel und Rauchopferaltar.

Im Lukasevangelium ist kein Hoher Feiertag, es ist Alltag im Tempel. Doch die Erwähnung des Rauchopferaltars spielt bei jüdischen Menschen wohl die Frage der Sündenvergebung ein. Wo und wie können wir in Zukunft Vergebung für unsere Sünden erlangen? Wo und wie können wir umkehren und neu anfangen und diese Umkehr und diesen Neuanfang, der lebenswichtig ist, öffentlich und damit verbindlich(er) machen? Diese Fragen stehen von Anfang an im Raum, lange bevor Johannes, der Sohn des Zacharias daran geht, eine Antwort darauf zu finden.

17. Juni

«...stand das ganze Volk draussen und betete» (Lk 1,10).

(pz) Beten, griechisch proseuchomai, ist ein Leitwort des lukanischen Doppelwerks aus Evangelium und Apostelgeschichte, ein roter Faden durch das ganze Werk. Zacharias, Hanna, Jesus, die Jüngerinnen und Jünger, Stephanus, Petrus, Paulus und Silas beten immer wieder. Lk 18,1-14 erzählt Gleichnisse über das Beten. In Lk 1,10 ist es das ganze Volk, pan to pläthos tou laou, die ganze Vielheit, die ganze Gemeinde (diese Bedeutungen liefert das Wörterbuch), die betet. Macht das miteinander Beten die Vielheit zur Gemeinde? Im griechischen Satz ist das Beten der Gemeinde vor dem Opferbringen des Priesters genannt, die Einheitsübersetzung dreht die Reihenfolge um (!). Für Lukas scheint das Beten vor dem Opfer zu kommen.
Im heutigen Judentum gibt es Richtungen, in deren Gebetbuch für die Wiedereinführung eines neuen Opferdienstes im Jerusalemer Tempel gebetet wird. Das Konservative und das Reformjudentum verzichten jedoch auf diese Bitte, weil sie einen neuen Tierkult prinzipiell ablehnen. Sie setzen den Akzent auf den Wortgottesdienst als Ausdruck der Liebe zu und des Dienstes für Gott. Wie es im Talmud heisst: «Wir haben gelernt: «... den Ewigen, euren Gott zu lieben, und ihm mit eurem ganzen Herzen zu dienen» – Welches ist der Dienst, der im Herzen ist? Sprich: Dies ist das Gebet.» (b. Taanit, 2a zitiert nach Roland Gradwohl, Frag den Rabbi. Streiflichter zum Judentum, Stuttgart 2. Aufl. 1995, S. 66 Abschnitt: «Erneut Tieropfer?)

18. Juni

(pz) Dem Zacharias erscheint ein Engel Gottes. Der Engel steht auf der rechten Seite des Rauchopferaltars (Lk 1,11). Warum ist es für Lukas so wichtig, auf welcher Seite des Altars der Engel steht? Die rechte Seite ist der Ehrenplatz. Kann das die ganze Antwort sein?

Warum betont Lukas, dass der Engel rechts steht? Gibt es biblische Parallelen? Die Suche in der Konkordanz nach «Engel» und «rechts» ergibt nur Ezechiel 10. Dort stehen Kerubim rechts vom Tempel bevor die Herrlichkeit Gottes diesen Tempel verlässt – eine Folge der Sünden Israels. Zwar ist es in Lk 1 der Engel Gabriel und er steht rechts vom Rauchopferaltar, aber trotzdem sind die Parallelen deutlich: der Tempel, das Thema Sünden und die Gegenwart Gottes. Erinnert Lukas an Ezechiels Vision? Schafft er eine Parallele zwischen dem Jahr 70 und dem Jahr 586? Stellt er die Frage, ob Gott wieder seinen Tempel verlassen wird, bevor er zerstört wird? Noch ist der Engel Gottes, ist eine Erscheinungsform Gottes im Tempel präsent. Noch spielen der Priester Zacharias und der Opferaltar eine Rolle. Aber die Frage ist gestellt.

Eine andere biblische Parallele entsteht durch den weiteren Verlauf des Textes: ein Engel des Herrn, der eine Geburt ankündigt – Richter 13, die Ankündigung der Geburt des Simson. Zwar erhält dort die künftige Mutter die Nachricht, später kommt es aber auch zur Begegnung Engel – Vater. Es gibt Gemeinsamkeiten (die Frage nach bzw. die Nennung des Engelsnamen (Ri 13,18; Lk 1,19), das Darbringen eines Opfers (Ri 13,20; Lk 1,10) und Unterschiede (der Zweifel an der Erfüllung der Engelsbotschafts ist in Ri 13 höchstens zwischen den Zeilen zu lesen). Die Parallele zwischen den verheissenen Söhnen ist deutlich: Sie beginnen ein Befreiungswerk und treten dabei durchaus aggressiv auf (Lk 3). Von der Enthaltsamkeit gegenüber berauschenden Getränken ist die Rede, in Ri 13,4 ist das aber ein Rat an die Mutter, in Lk 1,15 eine Haltung des Johannes. Durch die Bezeichnung des Simson als Nasiräer (vgl. Num 6) gilt das aber auch für ihn. Interessanterweise schreibt Lukas nichts über das Aussehen des Johannes. Das Bild von Johannes mit dem Kamelhaarmantel und weiteren «wilden» Elementen, das ihn mit Simson in Verbindung bringt, haben wir aus dem Matthäus- und Markusevangelium. Die Verbindung des Johannes mit der Kraft und dem Geist des Elija bringt ihn durchaus auch mit Gewalttätigkeit in Verbindung. Allerdings bleibt sie anders als bei Simson und Elija verbal. Was bedeutet es, dass im Sohn des Zacharias gleich zwei biblische Mannsbilder, Simson und Elija, auf die Bühne gerufen werden? Dem gilt es noch weiter nachzugehen.

19. Juni

«Als Zacharias ihn (den Engel) sah, erschrak er, und es befiel ihn Furcht» (Lk 1,12).

(pz) Wieder eine merkwürdige Doppelung: Warum ist die Rede von Erschrecken und von Furcht? Im Griechischen stehen hier die Worte etarachthä und phobos epepesen. Der Engel, der gleich darauf zu Zacharias spricht, reagiert nur auf die Furcht: mä phobou, sagt er, fürchte dich nicht. Das Erschrecken hingegen scheint durchaus angebracht und soll auch nicht verschwinden. Das Grundwort von etarachthä ist tarassein, es bedeutet durcheinanderschütteln, aufrühren, bewegt werden (mit besonderem Bezug zu Wasser!), im übertragenen Sinn in geistige oder seelische Verwirrung geraten, durchaus mit äusserlichen Folgen (Durcheinander). Die Passivform, die in Lk 1 vorliegt, bedeutet in Bestürzung, Schrecken geraten. Das Substantiv gibt es in einer weiblichen und einer männlichen Form, tarachä oder tarachos. Sie bedeuten grundsätzlich die Störung der gewöhnlichen Ordnung: des Wassers, des Innenlebens, der politischen Ordnung im Sinne eines Aufruhrs bzw. Tumultes. Im Lukasevangelium wird der Ausdruck nur ganz am Anfang gebraucht. Zacharias und Maria erschrecken bei ihren Begegnungen mit Engeln, bei denen sie von bevorstehenden Schwangerschaften und Geburten hören (1,12 und 1,38). Ihre gewohnte Ordnung gerät durcheinander. Das ist so und das soll auch so sein. Deswegen sagen die Engel nur: Fürchte dich nicht, mä phobou. Das Erschrecken, der Aufruhr, die durcheinandergeschüttelte Ordnung, die bleibt. Es ist ein Tohuwabohu. Aus diesem Tohuwabohu entsteht in Gen 1 die Schöpfung. Schöpfung ist eine Ordnung, die Leben in Fülle ermöglicht.

Ich muss nochmals zurück zum Engel und zur Frage nach biblischen Parallelen. Ein Blick in den neu erschienenen Lukaskommentar von Thomas P. Osborne (Die lebendigste Jesuserzählung, Verlag Katholisches Bibelwerk Stuttgart 2009, S. 20) macht eine Parallele sichtbar, sobald man den Namen des Engels, den er erst in Vers 19 nennt, mit einbezieht. Gabriel ist aus dem Buch Daniel bekannt. Als Daniel zur Zeit des Abendopfers auf dem Heiligen Berg betet, erscheint Gabriel, kündigt das Erscheinen des Messias und das Ende der Not für Volk und Stadt an (Dan 9; 8,15ff.). Dieses Vorbild spielt Lukas hier also ein und sagt: Darum geht es jetzt wieder. Die Rettung ist nahe.

20. Juni

«Der Engel aber sagte zu ihm: «Fürchte dich nicht, Zacharias.» (Lk 1,13a).

(pz) Dreimal sagen das Engel im Prolog des Evangeliums. Nicht fürchten sollen sich Zacharias im Tempel in Jerusalem, Maria in Nazaret (1,30) und die Hirten auf dem Feld bei Betlehem (2,10). Was verbindet diese drei Personen(gruppen) und Orte? Was unterscheidet die drei Szenen?
Alle drei sind im Text eng mit dem «ganzen Volk Israel» verbunden. Das ganze Volk steht vor dem Tempel und betet. Der Engel sagt zu Zacharias: «Dein Gebet ist erhört worden», obwohl von einem Gebet des Zacharias keine Rede ist. Wohl aber vom Gebet des Volkes. Drücken die einen, das Volk, aus, wofür der andere, Zacharias, noch keine Worte hat, was er vielleicht noch gar nicht als Sehnsucht in sich wahrgenommen hat?
Maria verbindet ihr Schicksal mit dem des Volkes. Sie betet: «Gott nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheissen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig» (1,54). Sie knüpft die Verbindung zwischen den Generationen des Volkes der früheren und der kommenden Zeit.
Die Hirten hören von einer Freude, «die dem ganzen Volk zuteil werden soll» (2,10). Es ist die Freude darüber, dass HEUTE Rettung Wirklichkeit geworden ist.
Die Hirten bringt das in Bewegung. Maria willigt ein in das Durcheinandergeraten aller bestehenden Ordnung. Zacharias verschlägt es erst mal die Sprache.
Stehen die drei für das Volk Israel zur Zeit des Lukas, am Ende des 1. Jahrhunderts? Eine Generation nach dem Untergang Jerusalems und des Tempels? Stehen die Hirten für das Am Haaretz, das einfache Volk des Landes, das nach einer Zukunft sucht (s.o.). Steht Maria für die, die eine Verbindung sehen zwischen den Verheissungen an die Väter und Mütter und der Gegenwart und Zukunft – trotz des schrecklichen Bruches, der alles in Frage stellt, was bisher gültig war? Steht Zacharias für die Gruppe der Verantwortlichen für das Volk, deren materielle und theologische Grundlagen zerschlagen worden sind und die deswegen sprachlos geworden sind? Die Aufmerksamkeit des Lukas bleibt bei ihnen, bleibt bei Zacharias. Lukas ringt um ihn, will ihn gewinnen für seine Vision der Zukunft, will ihn wieder sprach- und handlungsfähig machen. Die Apostelgeschichte erzählt von den Konflikten mit der Priester- und Führungsschicht. Sie erzählt aber auch davon, dass die Gemeinde, der Lukas besonders verbunden ist, «Tag für Tag einmütig im Tempel verharrt» (Apg 2,46) und dass die Apostel im Tempel lehren und wirken und formuliert in 6,7: «auch eine grosse Anzahl von Priestern nahm gehorsam den Glauben an». Vielleicht ist dieser Satz mehr Hoffnung als historische Erfahrung. Aber es ist definitiv die Hoffnung des Lukasevangeliums, die mit der Figur Zacharias verbunden ist.

21. Juni

(pz) Ein Mann und ein Engel. Die Zachariaserzählung gleicht der Josefserzählung im Matthäusevangelium. Der neutestamentliche Josef verweist auf den alttestamentlichen Josef. Der wird in der jüdischen Tradition immer wieder als der Gerechte bezeichnet. Und auch Matthäus betont ausdrücklich, dass Josef gerecht ist (Mt 1,19). Ja und von Zacharias heisst es ja, dass er tat, was in den Augen Gottes recht ist» (Lk 1,6). Er wird Gott gerecht. Es geht offenbar um die Herausforderung für Männer, gerecht zu sein und zu werden: sich selbst, ihren Werten und Überzeugungen – über Zacharias heisst es, er hielt «sich in allem streng an die Gebote und Vorschriften des Herrn» Lk 1,6 – die Dopplung zeigt, dass da ein Spielraum ist zwischen Geboten und Vorschriften und dem, was in den Augen Gottes recht ist.
Es geht aber auch darum, auch den Menschen, mit denen die Männer verbunden und für die sie verantwortlich sind (für Zacharias seine Frau, das ganze Volk) sowie der aktuellen Situation und den Zukunftsperspektiven, die in ihr liegen und letztlich auch Gott als dem umfassenden Horizont des Lebens gerecht zu werden. Mit weniger Komplexität gibt sich die Bibel nicht zufrieden. In den Raum, der sich hier auftut, sind wir hineingeworfen und eingeladen. Hier ist alles möglich. Auch die Begegnung mit einem Boten Gottes.

Zacharias begegnet dem Engel bei seiner Arbeit. Mitten in seiner Schicht am Tempel. Zacharias ist eine Figur, mit der Männer Zugang zur Bibel finden können. Wünsche ich mir manchmal, dass mir bei der Arbeit ein Engel begegnet? Welche Engel sind mir schon bei der Arbeit begegnet? Wo ist der beste Platz bei meiner Arbeit, von dem aus ich gerne von einem Engel gesehen werden möchte (bei Zacharias ist es rechts vom Rauchopferaltar)? Von welchen Gebeten, die ich gar nicht ausgesprochen habe, wünsche ich mir, dass sie jemand hört und dass sie erhört werden?

22. Juni

(pz) Der Name Zacharias spielt noch einen weiteren biblischen Kontext ein. Das Buch des Propheten Sacharja, der denselben Namen auf Hebräisch trägt. Was ist die Botschaft des Propheten Sacharja an den Priester Zacharias und dadurch an die Leserinnen und Leser des Lukasevangeliums?

Sacharja wendet sich an die jüdischen Menschen, die seit der Zerstörung Jerusalems 587/586 in der Verbannung in Babylon leben. Er ruft sie auf, zurückzukehren. «Der Herr wird Juda in Besitz nehmen; es wird sein Anteil im Heiligen Land sein. Und er wird Jerusalem wieder auserwählen» (Sach 2,16). Die Situation Sacharjas ist die Situation des Lukasevangeliums. Jerusalem ist zerstört, das Judentum lebt in der Zerstreuung, der Tempel ist nicht mehr, Priester braucht es nicht mehr. Sacharja spricht Zacharias trotz allem Hoffnung zu. Das ist nicht das Ende!
Sacharja blickt voraus auf das messianische Heil. Er hat Visionen, die nicht nur den zahllosen geflohenen bzw. in die Sklaverei verkauften Bewohnerinnen und Bewohnern Jerusalems, sondern allen mit dem Judentum verbundenen Leserinnen und Lesern des Lukasevangeliums mit Sicherheit die Tränen in die Augen treiben: «Greise und Greisinnen werden wieder auf den Plätzen Jerusalems sitzen ... Die Strassen der Stadt werden voll Knaben und Mädchen sein, die in den Strassen Jerusalems spielen ... Seht, ich werde mein Volk befreien aus dem Land des Sonnenaufgangs und aus dem Land des Sonnenuntergangs. Ich werde sie heimholen und sie werden in Jerusalem wohnen» (Sach 8,4-5.7-8). Sacharja verkündet dem Zacharias und allen, die sich in ihm wieder erkennen, den Messias: «Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft. Er ist demütig und reitet auf einem Esel.» (Sach 9,9). Lukas wird das später erzählerisch ausgestalten (Lk 19).
Sacharja verkündet aber auch dem Opferpriester Zacharias im Tempel und in seiner engen Verbindung mit dem ganzen Volk eine neue elementare, auf die Grundbedürfnisse von Menschen bezogene Zukunft: «Die Kochtöpfe im Haus des Herrn werden gebraucht wie die Opferschalen vor dem Altar. Jeder Kochtopf in Jerusalem und Juda wird dem Herrn der Heere geweiht sein. Alle, die zum Opfer kommen, nehmen die Töpfe und kochen in ihnen.» (Sach 14,20-21). Das ist die Zukunft dessen, was einmal Tempel war.

Was ist denn nun die Botschaft des Engels? Es ist eine zweifache. Da ist einmal das, was er sagt. Und dann ist da die Art, wie er es sagt. Der Engel erweist sich nämlich als schriftgelehrt. Praktisch alles, was er sagt, ist Zitat oder Verweis auf die Heilige Schrift:
Ich zitiere nach der Übersetzung von Pesch, Wilckens und Kratz und gebe einige der biblischen Verweisstellen an:
«Fürchte dich nicht, Zacharias! (erstmals gesagt zu Abram in Gen 15,1; die Konkordanz zur Lutherbibeln gibt anschliessend 20 weitere Belege aus der Tora und 54 aus anderen biblischen Schriften an)
Denn erhöhrt ist dein Flehen (1 Kön 9,3; 2 Kön 20,5; 2 Chr 7,12; Jes 38,5)
und deine Frau Elisabet wird dir einen Sohn gebären (mehrmals von Sara gesagt: Gen 17,19.21; 21,2.3.7.9; 24,36; ausserdem Jes 7,14)
und rufen wirst du seinen Namen: Johannes! (zu Abraham Gen 16,11)
Und Freude wird dir sein und Jubel (Ps 35,27; 45,16; Jes 25,9; Jer 7,34)
und viele werden sich über seine Geburt freuen (eine direkte Parallele konnte ich nicht finden, allerdings kommt mir die Geburt Isaaks in den Sinn, nach der Sara sagt: «Gott liess mich lachen; jeder, der davon hört, wird mit mir lachen»)
Denn er wird gross sein vor dem Herrn
und Wein und Rauschtrank wird er nicht trinken (vgl. die Nasiräerregeln in Num 6,2-3; auch Hanna in 1 Sam 1,11f. gelobt ihren Sohn als Nasiräer aufwachsen zu lassen)
und mit heiligem Geist wird er erfüllt sein (als Geist Gottes erfüllt er Bezalel Ex 31,3, Gideon Ri 6,34, Micha Mi 3,8, den Erdkreis Weish 1,7)
schon vom Schoss seiner Mutter an (Ps 22,11; Jes 49,1; Jer 1,5)
und viele der Söhne Israels wird er zuwenden zum Herrn, ihrem Gott (Mal 3,24, ein Vers, der nachher explizit noch einmal aufgenommen wird)
und er, er wird vorangehen vor ihm in Geist und Kraft des Elija (2 Kön 2,15, Sir 48,12; evtlö auch Mal 3,1 «den Weg bahnen»)
die Herzen der Väter den Kindern zuwenden (Mal 3,3,23-24; Sir 48,10-11)
und Ungehorsame zur Gesinnung von Gerechten
- zu bereitem dem Herrn ein gerüstetes Volk» (zurichten übersetzt Luther und verwendet damit einen Begriff aus der Opfersprache Gen 43,16; Lev 6,5; 14,19; Num 6,16...)
(Lk 1,13-17)

Bei diesem ersten Durchgang habe ich mit der Konkordanz zur Lutherbibel gearbeitet. Keine biblischen Parallelen habe ich für folgende 2 Stellen gefunden:
1. Denn er wird gross sein vor dem Herrn ...
Die räumliche Angabe «vor», griechisch enoopion findet sich fast ausschliesslich bei Lukas und in der Offenbarung des Johannes.Bei Lukas kommt es in dieser Engelrede ein zweites Mal vor: V17: mit Geist und Kraft des Elija vor Gott her gehen.
2. ... und (zuwenden) Ungehorsame zur Gesinnung von Gerechten
griechisch kai apeitheis en phronäsei dikaioon: phronäsis, Gesinnung, Denkungsart ist ein Ausdruck aus der hellenstischen Philosophie. Was bedeuten diese Befunde?

Lukas stellt die Geburt, die er hier ankündigt in ein ganz bestimmtes Umfeld. Er ruft durch Zitate und Verweise wichtige Gestalten aus der biblischen Geschichte in Erinnerung: Abraham, Sara, die Stammeltern, die Nasiräer; Gideon, die Richterzeit; Elija, der Kämpfer für Gott; die Prophetinnen und Propheten; sie alle stehen dem noch ungeborenen Kind als Patinnen und Paten zur Seite. Die Tora, speziell die Weisungen für den Tempeldienst, die Psalmen, die Gebetstradition Israels, die Sprüche als Ausdruck der weisheitlichen Philosophie, sie alle sind ins Bewusstsein gerufen. Es wird ein Kind werden, das mitten in und aus der Geschichte Israels leben wird. Es wird ein Kind werden, dass die Erinnerung an die wichtigsten Erfahrungen des Volkes Israel und die Hoffnung auf die Erfüllung seiner Möglichkeiten verkörpern wird.

Den beiden Stellen, die nicht direkt auf andere Bibeltexte verweisen (bzw. deren Verweisstellen ich noch nicht entdeckt habe), werde ich später nachgehen.

23. Juni

«Woran soll ich erkennen, dass das wahr ist?», fragt Zacharias den Engel (1,18).

(pz) Er setzt damit die biblischen Einspielungen fort, denn das ist genau die Frage von Abraham an Gott in Gen 15,8. Abraham formuliert: Woran soll ich erkennen, dass ich es zu eigen bekomme? Die Übersetzung der Einheitsübersetzung ist nichr sehr glücklich. Im Griechischen steht hier: kata ti gnoosomai touto; wie soll ich das alles verstehen? Es geht nicht um eine objektive Wahrheit, sondern um die Möglichkeiten und Grenzen eines Menschen, Zugang zu einer Erkenntnis zu finden, sich eine Verheissung/Erkenntnis zu eigen zu machen. Das Wort «Gnosis» schafft hier wieder einen Bezug zur philosophischen Erkenntnis oder auch zu Mysterienreligionen.

Und auch der Einwand, den Zacharias formuliert, verbindet seine Geschichte mit der Abrahams und Saras: «Ich bin ein alter Mann und auch meine Frau ist in vorgerücktem Alter» (Lk 1,18). Zacharias und Elisabet rufen Abraham und Sara in Erinnerung. Sie sind die Vergegenwärtigung der Stammeltern. Sie stellen die Frage, ob sie der neue Anfang einer uralten Geschichte sind. Die Geschichte von Abraham und Sara wurde im Volk Israel erzählt, als die Frage hiess, ob es nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 und der unendlich langen Zeit des unfruchtbaren Exils doch noch eine Hoffnung auf Zukunft geben würde. Abraham und Sara sprachen Hoffnung zu. «Schaut auf Abraham, euren Vater, und auf Sara, die euch geboren hat!» ruft der Prophet der Hoffnung, Deuterojesaja, dem Volk zu (Jes 51,2) «Schaut auf den Fels, aus dem ihr gehauen seid, auf die Höhlung des Brunnens, aus dem ihr gegraben seid.» Lukas fragt: Gilt dieses Hoffnungsbotschaft auch jetzt wieder, nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70? Gibt es einen Neuanfang nach den Jahren der Unfruchtbarkeit? Gibt es neue/alte Brunnen, nachdem der Strom lebendigen Wassers, der aus dem Tempel geflossen ist (Ezechiel 47) endgültig nicht mehr fliesst? Gibt es die Hoffnung auf einen neuen Felsen, nachdem der Felsen des Tempelberges in Stücke gehauen wurde?

24. Juni

Der Engel antwortet auf die Einwände Zacharias mit einer Selbstvorstellung und Selbstpositionierung: «Ich bin Gabriel, der vor Gott steht» (1,19).

(pz) Ein drittes Mal nach 1,15 und1,16 verwendet er die Ortsangabe vor/enoopion (Johannes wird gross sein vor Gott und im Geist und der Kraft des Elija vor Gott hergehen – genauso wie Gabriel vor Gott steht. ). ´Vor Gott´ scheint ein entscheidender Ort bei Lukas zu sein. Ein biblisches Geschehen, das vor Gott spielt, kommt mir in den Sinn: David tanzt vor Gott (2 Sam 6). Wenn wir genauer nachlesen, sind es «David und das ganze Haus Israel», die «tanzten und sangen vor dem Herrn mit ganzer Hingabe und spielten auf Zithern, Harfen und Pauken, mit Rasseln und Zimbeln» (2 Sam 6,5). Die Septuaginta verwendet an dieser Stelle genau wie Lukas das Wort enoopion. Hier wird die Bundeslade nach Jerusalem überführt. David will ihr ein Haus bauen. Sie steht später im Allerheiligsten des Tempels. Aber Gott selbst weist darauf hin, dass der Gott Israels, der Gott der Befreiung aus dem Sklavenhaus, von Anfang an in einem Zelt wohnte und umherzieht (2 Sam 7,6). Der Gott der Befreiung ist nicht auf einen festen Platz angewiesen. Er ist ein Gott des Unterwegsseins. Der Gott, der mit seinem Volk unterwegs ist, lädt das ganze Volk ein, vor ihm zu tanzen , zu spielen und zu singen. Das ist der Gottesdienst , der Gott wohlgefällig ist. Entscheidend ist, was vor Gott passiert, wo immer das auch sein mag.

Gabriel steht nicht allein vor Gott. In Tob 12,15 stellt sich Rafael als einer der sieben Engel vor, die «das Gebet der Heiligen emportragen und mit ihm vor die Majestät des heiligen Gottes treten». Sieben Engel und das Gebet der Heiligen stehen vor Gott.
Während Rafael den Tobias auf seiner langen Reise begleitet, scheint Gabriel vor allem für die Überbringung von Nachrichten zuständig zu sein. In Lk 1,19 geht die Botschaft des Engels wieder mit einer der auffälligen Doppelformulierungen des Lukasevangeliums weiter: «Ich bin gesandt worden, um mit dir zu reden und dir diese frohe Botschaft zu bringen». Nicht alles, was der Engel mit Zacharias redet, ist frohe Botschaft. Nicht für Zacharias und nicht für Israel, die ja beide für Gott, für eine neue und nicht mehr erwartete Zukunft bereit gemacht werden sollen. Das ist nicht einfach eine frohe Botschaft, auch wenn es viellecht eine gute Nachricht ist. Auch in Dan 9,21f hat Gabriel eine doppelte Aufgabe. Er ist gesandt, um Daniel eine klare Einsicht zu geben und ihm ein Gotteswort zu verkünden. Hier tut also der Engel etwas dafür, dass der Menschseine Botschaft auch verstehen kann. Zacharias muss alleine zurecht kommen. Die Botschaft an Daniel ist dann aber voller Schrecken, von Tod und Verderben ist die Rede. Ein Gesalbter, ein Messias, wird verheissen. Sein Wirken fällt aber in eine Zeit der Bedrängnis. Vielen wird der Bund schwer gemacht, den Opfern wird ein Ende gemacht. Im Heiligtum steht ein unheilvoller Greuel. Die Botschaft des Engels Gabriel an Daniel dürfte für die Menschen zur Zeit des Lukasevangeliums auf schrecklichste Weise im Krieg gegen die Römer Wirklichkeit geworden sein. Hoffnung macht vielleicht allein noch die Begründung des Engels, warum Daniel die Botschaft empfangen soll: Denn du du bist von Gott geliebt. Bei dieser Liebe erschliesst sich nicht sofort, warum sie denn eine gute Nachricht ist. Eine frohe Botschaft ist sie jedenfalls nicht.

25. Juni

«Aber weil du meinen Worten nicht geglaubt hast, die in Erfüllung gehen, wenn die Zeit dafür da ist, sollst du stumm sein und nicht mehr reden können, bis zu dem Tag, an dem all das eintrifft» (Lk 1,20).

(pz) So schliesst der Engel seine Rede ab. Seine Rede nimmt mehr als ein Drittel der ganzen bisherigen Erzählung ein.
Von zwei Zeitangaben ist hier die Rede, von der Zeit der Erfüllung (griechisch kairos) und von dem Tag (griechisch den Tagen hämeras) an dem das alles eintrifft. Eintreffen und Erfüllen werden unterschieden (wieder eine dieser Dopplungen mit Mehrdeutigkeit). Die Einheitsübersetzung dreht die Reihenfolge dieser Angaben im Vergleich zum lukanischen Original um. Wo ursprünglich zuerst von Tagen, in denen etwas geschieht und dann von der Zeit, diesich erfüllt die Rede ist, ist es in der Einheitsübersetzung genau umgekehrt. Die «Tage» haben im Lukasevangelium eine besondere Bedeutung. Es sind fast immer besondere Tage, es sind die Tage der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem und die Tage des Leidens und der Hinrichtung des Messias (Lk 19,41; 21,6; 21,22 und 24,18). Die Tage sind im Lukasevangelium die Zeit, in der die weltbeherrschenden Mächte zerstörerisch und vernichtend auftreten, in denen aber auch die Umkehrung der Verhältnisse angekündigt wird und in der Geburt des Messias beginnt.In dieser Zeit ist Zacharias stumm und kann nicht mehr reden (wieder eine merkwüridge Verdopplung). In dieser Zeit wird die Tradition Israels, die er vertritt, sprachlos vor Schreck. In dieser Zeit bricht eine Kette der Überlieferung ab. Es kann nicht einfach weiter geredet werden, als wäre nichts geschehen. Im Gegenteil: jedes bruchlose Weiterreden von der Gegenwart des lebendigen Gottes angesichts der Ermordeten und der Trümmer wäre einfach nur zynisch. Es gibt eine Zeit, in der geschwiegen werden muss. Diese Zeit muss ausgehalten werden, so schmerzhaft das auch ist. Zacharias muss durch dieses Zeit des Verstummens hindurch.
Die Erfüllung der Zeit ist das aber noch nicht. Die steht noch aus. Zur Zeit des Lukasevangeliums steht sie immer noch aus. Heute steht sie immer noch aus.

Was bedeuten die vielen Verdoppelungen im Prolog des Lukasevangeliums? Hier sind sie rückblickend:
- stumm sein und nicht mehr reden können (1,20)
- in Erfüllung gehen, wenn die Zeit dafür da ist und an dem Tag, an all das eintrifft (1,20)
- um mit dir zu reden und dir diese frohe Botschaft zu bringen (1,19)
- erschrak er und es befiel ihn Furcht (1,13)
- die Gebote und Vorschriften des Herrn (1,6)
- lebten so wie es in den Augen Gottes recht und hielten sich in allem streng an die Gebote und Vorschriften des Herrn (1,6)
Manche dieser Doppelungen lassen sich als subtile Differenzierungen verstehen, wie ich es in diesem Tagebuch bereits getan habe. Aber ist das alles? Kommt in diesen Verdoppelungen nicht noch etwas Anders, etwas Grundsätzlicheres zum Ausdruck? Etwa die Einsicht, dass sich Wirklichkeit nicht eindeutig beschreiben lässt und dass alles Lebendige mehrdeutig ist? Etwa eine Einsicht in die Wirklichkeit wie sie heute die Quantenphysik macht und experimentell nachweist: dass jedes Elektron gleichzeitig Welle und Teilchen ist?
Ist das zu weit hergeholt? Vielleicht.

26. Juni

«Inzwischen wartete das Volk auf Zacharias» (1,21).

(pz) Lukas stellt eine besondere Verbindung zwischen dem Priester Zacharias und dem Volk Israel her. Das Volk begleitet Zacharias aufmerksam bei seinem Dienst und stellt den Rahmen für seine Tätigkeit her: In 1,10 steht das Volk vor dem Tempel und betet, jetzt wartet es. Das Volk, das sind die einfachen Leute, im Unterschied zur den herrschenden Schichten. Sie stehen für die Armen, ein – wie wir gesehen haben, sozialer und theologischer Begriff (vgl. Den eintrag vom 14.12.2009). Mit ihnen tritt Gott zu Beginn des Evangeliums durch den Boten/Engel in Verbindung. Die Botschaft des Engels ist Antwort auf das Gebet des Volkes (von einem Gebrt des Zacharias, auf das der Engel reagiert, war ja keine Rede vgl. 1,13).
Das Volk steht draussen und wartet, es betet und wundert sich. Vielleicht ist beten und sich wundern ja das Gleiche. Nur wer das, was ist, nicht für selbstverständdlich hält, nur wer das, was ist, nict für die einzige mögliche Wirklichkeit hält, nur wer sich über das war ist, noch wundert, nur die oder der betet.

27. Juni

«... und wunderte sich, dass er solange im Tempel blieb» (1,21).

(pz) Sich wundern, griechisch thaumazein, ist im Lukasevangelium en eher selten gebrauchtes Wort. Die Konkordanz zur Einheitsübersetzung gibt keinen weiteren Beleg an. Allerdings gibt es in der Apostelgeschichte eine Stelle, in der das Wort verwendet wird (Apg 3,12). Sie spielt ebenfalls im Tempel. Petrus und Johannes beten dort und heilen am Tor des Tempelseinen kranken Bettler. Anschliessend läuft das ganze Volk in der Halle Salomos zusammen. Petrus wendet sich an sie mit der Frage: «Was wundert ihr euch?» Und verweist sie auf «den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Gott unserer Väter», der in ihnen und in Jesus gewirkt hat. Die Rede ist ein Bekenntnis zur bleibenden Erwählung Israels: «Für euch zuerst hat Gott seinen Knecht erweckt und gesandt, damit er euch segnet und jeden von seiner Bosheit abbringt» (Apg 3,26). Die Parallelen zur Aufgabe des Johannes in Lk 1 sind deutlich: die Ungehorsamen zur Gerechtigkeit führen (Lk 1,17). Stärker als bei Johannes betont Lukas jetzt den Segen Gottes , der allem vorausgeht und bleibt.
Ist die Frage des Petrus im Tempel auch eine Frage an das Volk, das auf Zacharias wartet? «Was wundert ihr euch?» Dann ist dieses Volk auch hier auf den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs verwiesen und auf das Vertrauen auf den ihnen zugesagten bleibenden Segen.

28. Juni

«Als er dann herauskam, konnte er nicht mit ihnen sprechen» (1,22).

(pz) Es gibt eine Kommunikationsstörung zwischen dem Priester im Tempel und dem Volk. Sie ist aber nicht vollständig: das Volk merkt, dass der Priester im Tempel eine Erscheinung gehabt hat und der Priester gibt Zeichen mit der Hand. Das Volk merkt, dass Gott im Tempel gegenwärtig ist und mit den Menschen in Beziehung steht, der Tempelpriester bleibt mit dem Volk verbunden, wenn auch ohne Worte. Die Beziehungen sind vorhanden, die deutenden Worte dazu fehlen im Moment.
Der Priester hat im Tempel eine Erscheinung gehabt, die sein gesamtes Bild von sich und seiner Zukunft einstürzt und umstürzt. Für ein neues Bild von sich und der Zukunft gibt es bisher nur Worte eines Engels, Worte vom Himmel, Worte von dem, der vor Gott steht. Sie sind noch nicht zu Worten des Priesters und zu Worten des Volkes geworden. Das ist die Situation des Tempels zur Zeit des Lukasevangeliums. Der bisherige Tempel ist eingestürzt. Die gewohnten Worte und Bilder helfen nicht mehr weiter. Die Worte für die Zukunft des Tempels, die nicht mehr so ist, wie sie lange war, sind noch nicht gefunden.

Thomas P. Osborne weist daraufhin, dass das Volk auf den Segen des Priesters wartet, also auf den aaronitischen Segen, der in Num 6,22-27 überliefert ist. Das Volk muss angesichts des stummen Priesters auf diesen Segen warten. Trotzdem merkt das Volk, dass Zacharias im Tempel «ein Gesicht» gehabt hat, so die Übersetzung Osbornes. Begegnungen von Angesichts zu Angesicht, wie sie ja im aaronitischen Segen benannt werden (»Gott lasse sein Angesicht über dir leuchten... Gott wende dir sein Angesicht zu») ereignen sich also. Nur die Vermittlung durch den Priester ist gestört.

Jetzt wechselt der Text die Perspektive. Er verlässt den Tempel und geht mit Zacharias «nach Hause». Noch wissen wir nicht, wo sich das befindet. Der Text verlässt den öffentlichen Raum und kehrt ein im Haus einer Familie. Lukas wird – ohne jeden Voyerismus – ganz intim. Er erzählt wie Elisabet einen Sohn empfängt und 5 Monate lang zurückgezogen lebt.Offen bleibt, ob Zacharias wieder in den Tempel geht, «wenn seine Priesterklasse an der Reihe ist (1,8). Der Text bleibt aber mit Elisabet im Haus. In den Häusern von Frauen werden die nächsten dreissig Verse des Textes weitgehend spielen. Zuerst bekam im Lukasevangelium der Tempel grossen Raum. Jetzt sind es die Häuser. Tempel und Haus, das sind die beiden Zentren jüdischen Lebens dieser Zeit. Die Zeit des Tempels ist vorüber. Jetzt wird das Haus zum entscheidenden Ort, an dem Gott gegenwärtig ist und hilft. Elisabet spricht es aus: «Der Herr hat mir geholfen» (1,25). Gott ist gegenwärtig im Heiligtum der sexuellen Vereinigung zweier Menschen. Biblisch gesprichen könnte man sagen: Zacharias und Elisabet erkannten sich und Elisabet erkannte dabei Gott als ihre Hilfe. «Hilfe» ist ein biblisches Bild für Gott und ein Bild für die Beziehung zwischen Menschen: «Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht», heisst es in Gen 2,18. Hier geht es nicht um die Frau als eine Hilfe für den Mann. Hier geht es um den Menschen bzw. die Menschheit (adam). Erst als Beziehungswesen, mit einem Gegenüber, werden Menschen zu Menschen und zum Ebendbild Gottes. Gottes Ebennbild ist die Gattung Mensch in ihrer Vielfältigkeit (Gen 1,27). Jeder Mensch, Frau oder Mann, ist dem anderen ein Gegenüber und damit eine Hilfe zur Menschwerdung. Ja auch die Tiere haben diese Bedeutung. Als sie dem Menschen gegenübertreten, beginnt er zu sprechen und ihnen Namen zu geben. Als ein anderer Mensch ihm gegenübertritt, erkennt und benennt er sich selbst: mein Fleisch, Frau und Mann (2,23).
Die jüdische Tradition hat stärker als die christliche die Hilfe als Gegenübersein erkannt. Im Christentum wurde vor allem die Hilfs- und Dienstfunktion der Frau gegenüber dem Mann in diesen Text hineingelesen. Das Judentum hat eher verstanden, dass zur Hilfe auch der Unterschied und der Widerstand gehört. Wo wir die Übersetzung «eine Hilfe, die ihm entspricht» gewohnt sind, kommt die Übersetzung «eine Hilfe – ihm gegenüber» dem ursprünglich Gemeinten wohl näher.
Ob Elisabet dem Zacharais zu einer Hilfe, ihm gegenüber werden wird?
Zuerst ist festzuhalten, dass Lukas in seinem ersten längeren Erzählabschnitt einen Kreis schliesst. Am Anfang (1,5-7) richet er de Blick vor allem auf Elisabet (von ihr ist zweimal die Rede, von Zacharias nur einmal) und so tut er es am Ende wieder.

29.6.2010

«Gott hat in diesen Tagen gnädig auf mich geschaut und mich von der Schande befreit, mit der ich in den Augen der Menschen beladen war» (1,25).

(pz) Die persönliche Aussage der kinderlosen Elisabet macht Sinn und korrespondiert mit der politiichen Ebene, auf der sie sich ebenso lesen lässt. «Diese Tage», das sind ja im Lukasevangelium wie wir gesehen habe (4.2.), die Tage der Zerstörung des Tempels. Die «Schande in den Augen der Menschen» kann auch das demütigende Zur-Schau-Stellen der Juda capta, des besiegten Juda, auf römischen Münzen und auf dem Triumphbogen des Titus in Rom meinen. Gott hat sich nicht von Juda abgewandt, bezeugt Lukas seine Überzeugung in der Rede Elisabets. Maria wird es bekräftigen, wenn sie im Angesicht Elisabets von der Erhöhung der Erniedrigten singen wird (1,52). Elisabet verkörpert die Juda capta, das erniedrigte Jerusalem, dem Gott sich gnädig zuwenden und Hilfe sein wird.