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Ein Protest gegen den Tod   

Dieter Bauer zum Evangelium am 10. Sonntag im Jahreskreis: Lukas 7,11–17 SKZ 20-21/2010

«Die Hoffnung stirbt zuletzt», heisst es. Wird ein Mensch schwer krank, der uns lieb und teuer ist, werden wir bis zuletzt hoffen, dass sich sein Zustand wieder bessern wird, oftmals wirklich bis zuletzt. Erst der eingetretene Tod kann uns davon überzeugen, dass diese Hoffnung vergebens war. Das müssen wir Menschen akzeptieren, so schwer es uns auch fallen mag. Der Tod gehört nun einmal zum Leben dazu.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Und trotzdem erzählt die Bibel immer wieder davon, dass der Tod nicht notwendigerweise das letzte Wort haben muss. Die Erzählungen der Bibel vom «Gott des Lebens» machen mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass für Gott nichts unmöglich ist (Lk 1,37; 18,27). Für diesen Gott, der noch unfruchtbaren Frauen im vorgerückten Alter zu Kindersegen verhelfen und selbst die reichsten Kamele durch Nadelöhre bugsieren kann, ist auch die Grenzmarke des Todes keine endgültige.
Davon erzählen bereits die alttestamentlichen Prophetengeschichten von Elija und seinem Schüler Elischa. Elija erreicht nach heftigem Protest gegen Gott, dass dieser den einzigen Sohn einer Witwe in Sarepta zum Leben erweckt (1 Kön 17,8-17). Und auch sein Schüler Elischa gibt einer Frau aus Schunem ihr gerade verstorbenes einziges Kind lebendig zurück (1 Kön 4,8-37).
Unübersehbar wandelt Jesus von Nazaret in der Erzählung des Lukasevangeliums auf den Spuren dieser Propheten. Bereits bei seiner Antrittspredigt in Nazaret hatte er sich mit Elija und Elischa verglichen: «Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine grosse Hungersnot über das ganze Land kam. Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon. Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa …» (Lk 4,25 f.). Wie der Prophet und sein(e) Schüler zieht er durch Israel: «Einige Zeit später ging er in eine Stadt namens Naïn; seine Jünger und eine grosse Menschenmenge folgten ihm» (Lk 7,11). Ortskundige wissen, dass Naïn ganz in der Nähe von Schunem liegt. Und tatsächlich trifft Jesus wie die Propheten auf eine Frau, die ihr einziges Kind verloren hat: «Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie» (7,12). Selbst der Ort des Aufeinandertreffens von Jesus und der Witwe ist derselbe wie bei Elija: am Stadttor (1 Kön 17,10).
Was nun folgt, wird eingeleitet durch einen auffälligen Namenswechsel. War bisher von «Jesus» die Rede, so spricht das Lukas-evangelium nun plötzlich vom «Herrn»: «Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! Dann ging er zu der Bahre hin und fasste sie an. Die Träger blieben stehen und er sagte: Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf! Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen …» (Lk 7,13-15).
Wer die Heiligen Schriften kennt, spürt sofort, dass dieses «Sehen» und «Mitleid haben» Gottesprädikate sind. Ja, sie sind geradezu typisch für den Gott Israels: «Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreissen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fliessen» (Ex 3,7 f.). So wie «der Herr», der Gott Israels, das Elend des Volkes sieht und nicht anders kann als zu handeln, so sieht «der Herr» in unserer Jesuserzählung Elend und Leid der Witwe und handelt – aus Mitleid.
Was aber ist «Mitleid»? Das zugrunde liegende griechische Wort (splagchnizesthai) spricht von einer Regung der Eingeweide, heute würden wir sagen «aus dem Bauch». Auch das hebräische Wort für «Barmherzigkeit» spricht übrigens von «Eingeweiden» (rahamim), heisst allerdings auch «Mutterschoss», was auf eine weibliche Komponente dieses Gefühls hindeutet! Mitleid ist also etwas, was «aus dem Bauch kommt», nicht «über den Kopf».1
Das «Mitleid», das «Erbarmen», ist übrigens bereits bei Deuterojesaja charakteristisch für Gottes Verhalten den Armen und Erniedrigten gegenüber (Jes 49,10; 54,8.10; 55,7). Die Psalmen wissen ebenfalls davon (Ps 25,6: 40,12; 51,3; 69,17; 77,10; 79,8; 103,4 u.ö.). Und auch das Frühjudentum weiss: «Meine Kinder, habt Erbarmen mit jedem Menschen durch Mitleid, damit auch der Herr, sich über euch erbarmend, mit euch Mitleid hat» (Testament Sebulon 8,1).
Jesus also wirkt «erbarmend» wie der Prophet im Namen Gottes: «Jesus gab ihn seiner Mutter zurück» ist ein wörtliches Zitat aus der Elijageschichte (Lk 7,15; vgl. 1 Kön 17,23). Und die Menschen, die diese Totenerweckung zu Naïn miterleben durften, sehen wie bei Elija und Elischa Gott am Werk: «Alle wurden von Furcht ergriffen; sie priesen Gott und sagten: Ein grosser Prophet ist unter uns aufgetreten: Gott hat sich seines Volkes angenommen» (Lk 7,16).

Mit Lukas in Gespräch

Die Formulierung «Gott hat sich seines Volkes angenommen» nimmt übrigens den Lobgesang des Zacharias ganz vom Anfang des Lukasevangeliums wieder auf (Lk 1,68 f.). Doch ganz anders als noch zu Anfang des Evangeliums, wo Jesus in dieser Beziehung mehr als skeptisch war – «Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt» (Lk 4,24) – erfährt er hier in Naïn die Anerkennung als «grosser Prophet». Wer die Schriften Israels kennt, hört hier mit, dass es sich bei Jesus um den angekündigten Propheten der Endzeit handeln muss (Dtn 18,15.18). Und auch die Jünger, die in Emmaus über ihre enttäuschten Hoffnungen sprechen, werden genau darauf Bezug nehmen: «Er war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk» (Lk 24,19).
Doch auch, wenn es heisst: «Und die Kunde davon verbreitete sich überall in Judäa und im ganzen Gebiet ringsum» (Lk 7,17), der «Erfolg» wird nicht lange anhalten: Bereits ein paar Verse später schon wird Lukas von massiven Zweifeln an den prophetischen Qualitäten Jesu berichten: «Wenn er wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen ...» (Lk 7,39).
Wer denn dieser Jesus nun genau ist, war (nicht nur) zu seinen Lebzeiten umstritten. Und erst nach seinem Tod wurde manchen klar: Jesu Wirken war vollkommen durchsichtig auf seinen Vater hin. Ja: Der Evangelist kann von Jesus gar nicht anders erzählen als aus dieser Erfahrung von Ostern her. Bei allem, was auch er uns vom historischen Jesus überliefert, sind seine Erzählungen doch auch immer gleichzeitig Bekenntnis der Auferstehung. Jesus, der neues Leben bei seinem Vater im Himmel erhalten hat, kann dieses auch anderen schenken.
Es gibt dieses Wunder der Rettung, wo keine Hoffnung mehr möglich scheint, wie beim Sohn der Witwe von Naïn. Dafür stehen Jesus und die Propheten mit ihrem Protest gegen den Tod. Es gibt aber auch die berechtigte Hoffnung darauf, dass unser von Gott geschenktes Leben auch noch einen Sinn hat über den Tod hinaus.


1 Vgl. meinen Beitrag: Neu zu entdecken: «Mitleid», in: SKZ 178 (2010), Nr. 9, 175.