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Unfassbare oder unerträgliche Wahrheit?   

Katharina Schmocker Steiner zum Evangelium am Dreifaltigkeitssonntag: Joh 16,12–15 SKZ 20-21/2010

Seit Jesus seinen Getreuen offenbart hat, dass noch vieles zu sagen wäre, ist schon vieles gesagt worden, das zu erfassen uns noch immer schwerfällt. So ist die Vorstellung, dass der eine Gott dreieinig und dreifaltig und dennoch nur einer ist, nach wie vor nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Davon ist allerdings in der Perikope Joh 16,12–15 auch nicht die Rede, obwohl darin alle drei (christlich) traditionellen Manifestationen erwähnt sind: Geist, («ich» =) Sohn und Vater.

«... was in den Schriften steht»

Jesus steht kurz vor seiner Leidenszeit, doch er ist nicht am Ende mit «seinem Latein». Er hat noch vieles zu sagen. Es ist kein Konjunktiv, kein «ich hätte, aber kann / tu es nicht». Er hat noch vieles zu sagen, doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, denn die Empfänger und Empfängerinnen der Botschaft sind für diese noch nicht bereit. Jesus erweist sich also als ein guter Rhetor. Er weiss, dass eine gute Rede, soll sie nicht im Sand verlaufen oder ungewollte Auswirkungen haben, den passenden Zeitpunkt und die richtige Verfasstheit des Publikums beachten muss. Andererseits verschweigt Jesus nicht, dass noch mehr zu sagen ist. Er hält das Publikum «bei der Stange», sichert sich das bleibende Interesse, indem er eine Stellvertretung ankündigt, die das Ausstehende später vermitteln wird. Das Ausstehende ist dabei einerseits, was jetzt noch nicht gesagt werden kann und andererseits oder zugleich, was erst in der Zukunft geschehen wird. Der Geist wird nicht aus sich selber heraus das Kommende verkündigen, sondern «mich verherrlichen», sagt Jesus.
Worauf aber will der Verfasser des Evangeliums hinaus? Warum schreibt er diesen Textabschnitt in einer Zeit, zu welcher Jesus durch die Auferweckung schon längst als Christus verherrlicht ist und die Christinnen und Christen das Wirken des Geistes in verschiedenen Ereignissen wahrzunehmen glauben und durch seine Hilfe die Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu bereits eben als dessen Verherrlichung zu erkennen lernten? Auf verschlungene Weise gibt er uns zu verstehen, dass es bei der Botschaft (auch) um den Vater geht: «Was immer der Vater hat, ist mein; deswegen sagte ich, was er aus mir nimmt auch wird er (wieder)verkündigen euch.» (Joh 16,15)* Liegt der Schlüssel im ana von anangelei? Der Geist wird, obwohl künftig sich Ereignendes, nichts Neues verkünden, sondern er wird wieder (V 13) und wieder (V 14) und wieder (V 15) verkünden, was er gehört hat und wird die Gläubigen so hodos agein, auf den (oder dem) Weg führen (Joh 16,13).

Mit Johannes im Gespräch

Der Geist, der offenbar die zentrale Aufgabe des Erinnerns hat, wird als der Geist der Wahrheit charakterisiert, der die Gläubigen mittels der ganzen Wahrheit auf dem/den Weg führt. Es drängt sich die in Joh 18,38 durch Pilatus gestellte Frage auf: Was ist Wahrheit? Es kann nicht der unerfreuliche Teil der Wahrheit sein, dass nämlich Jesus weg«gehen» wird und seine Freunde und Freundinnen in der Folge Bann und Bedrängnis zu ertragen haben werden, vor dem er sie jetzt noch verschonen will, denn eben dieses hat er ihnen unmittelbar vor der besprochenen Textstelle (zum wiederholten Mal) eröffnet – und die Adressatinnen und Adressaten des Evangeliums sind mit diesen Ereignissen bereits vertraut. Warum aber sollen die Jünger und Jüngerinnen erst mit Hilfe des Geistes der Wahrheit ertragen können, was noch zu sagen ist, wo er doch offenbar bezeugen wird, was sie Jesus schon gelehrt hat. So heisst es in Joh 14,26: «Der Führsprecher aber, der heilige Geist, den schicken wird der Vater in meinem Namen, jener wird euch lehren alles und erinnern euch an alles, was [ich] sprach zu euch.»* In Joh 15,26 wird der Geist der Wahrheit gleichgesetzt mit dem Fürsprecher/Beistand/Tröster (parakl-etos), «der vom Vater ausgeht». Wobei nicht nur «jener wird zeugen über mich», sondern «auch ihr aber zeugt, weil von Anfang (an) bei mir ihr seid»* (Joh 15,27). Diese Stellen geben einen Hinweis darauf, dass es nicht um Inhalte (Wahrheit), sondern um eine Befähigung (Wahrhaftigkeit) geht, die der verheissene Beistand vermitteln wird. Bisher hat Jesus selbst verkündet, was er vom Vater entgegengenommen hat. Doch wenn er zum Vater zurückgekehrt ist, werden seine Gefolgsleute diese Aufgabe zu übernehmen haben, denn es ist noch vieles zu sagen. Da sie sich dann nicht mehr fragend an Jesus wenden können, sich andererseits aber immer wieder als Zweifelnde und Unsichere gezeigt haben, können sie dies nicht ohne den Geist der Wahrhaftigkeit. bastazo (V 12) wäre dann nicht übertragen zu verstehen «ihr könnt es (noch) nicht ertragen», sondern wörtlich «(empor)heben, (weg)tragen». Jetzt, da Jesus noch da, der Beistand aber noch nicht gegeben ist, können die Schülerinnen und Schüler Jesu seine Aufgabe noch nicht übernehmen und sein Werk fortsetzen, was sie aber mit Hilfe des Geistes der Wahrheit später tun werden.
Diese Deutung allerdings lässt wieder fragen, warum der Verfasser diesen Einschub in einen Text stellt, der ja bereits selbst die Weiterverkündigung der Botschaft Jesu und damit seine Verherrlichung betreibt. Will Johannes den Gläubigen verdeutlichen, dass die Zeitgenossen und Zeitzeuginnen Jesu noch nicht erkennen konnten, dass seine Botschaft und die Geschehnisse um ihn in einem weit grösseren Zusammenhang stehen, dass sie (die Gläubigen) aus ihrer Distanz zum historischen Jesus nun jedoch die volle Wahrheit erfassen können? Tatsächlich vermag hier das ana von anangelei (VV 13.14.15) als Schlüssel zu dienen. Im Buch der Weisheit finden wir die Wiederkehr ähnlicher Ereignisse festgehalten. Angefangen bei Adam wird in Weish 10,1–21 über Noah, Abraham, Lot, Jakob und Josef aufgezeigt, wie Gott immer wieder die Seinen aus der Welt herausgelöst und gerettet hat bis hin zur Errettung ganz Israels aus der Knechtschaft in Ägypten. Eingeleitet wird diese Erinnerung mit dem Verweis, dass es des heiligen Geistes bedarf, in den Ereignissen den Plan Gottes zu erkennen: «Wer hat je deinen Plan erkannt, wenn du ihm nicht Weisheit gegeben und deinen heiligen Geist aus der Höhe gesandt hast? So wurden die Pfade der Erdenbewohner gerade gemacht, und die Menschen lernten, was dir gefällt» (Weish 9,17 f.)**. Da in Joh sowohl der heilige Geist (14,26) als auch der Geist der Wahrheit (14,17; 15,26) mit dem parakletos, der vom Vater ausgeht, gleichgesetzt wird, ist es wohl statthaft, darin die Weisheit wiederzuerkennen, von der gesagt wird: «In ihr ist ein Geist, gedankenvoll, heilig, einzigartig, mannigfaltig, (...) das Gute liebend, scharf, (...) alles vermögend, alles überwachend und alle Geister durchdringend. (...) Sie ist ein Hauch der Kraft Gottes und reiner Ausfluss der Herrlichkeit des Allherrschers; (...) Von Geschlecht zu Geschlecht tritt sie in heilige Seelen ein und schafft Freunde Gottes und Propheten» (Weish 7,22–27).** Die volle Wahrheit ist demnach, dass Jesu Leben, Sterben und Verherrlichung eine Fortsetzung der Geschichte Israels, ein weiteres Eingreifen Gottes darstellt, dass für die Seinen Rettung, für «die Welt» jedoch Gericht bedeutet (Joh 16,11). Den Geist der Wahrheit bedarf es nicht, um die volle Wahrheit zu ertragen, sondern sie zu erfassen und so zu verstehen, was in den Schriften steht und was Jesus lehrte: dass Gott offenbar nie müde wird, die Seinen aus jeglicher Knechtschaft zu befreien und dass Jesus nicht sich selbst, sondern was er vom Vater genommen, «in Offenheit über den Vater» verkündete.

* Übersetzung: Münchener Neues Testament
** Übersetzung: Einheitsübersetzung

Dr. Katharina Schmocker Steiner ist zurzeit in der Administration im Zürcher Lehrhaus – Judentum Christentum Islam tätig.