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Unbequeme Fragen   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 4. Sonntag der Osterzeit, Joh 10 (27-30) SKZ 15-16/2010

Das in der Leseordnung auf vier Verse verkürzte zehnte Kapitel des Johannesevangeliums wirft umstrittene Fragen auf: Wie ist die Beziehung zwischen Jesus und Gott zu denken und wie steht es um den christlichen Monotheismus? Welche Position bezieht Jesus bzw. das Christentum in Bezug auf aktuelle politische Fragen? Und schliesslich geht es in unserem Text auch um den Exklusivitätsanspruch des frühen (und späteren) Christentums und dessen schwieriger Wirkungsgeschichte.
Es sind die «Juden», die Gegner Jesu im Johannesevangelium, welche die unbequemen Fragen stellen. Bereits der Verfasser des Johannesevangeliums und später die gesamte christliche Tradition haben diese Fragen als Zeichen für den «Unglauben» der Juden begriffen. Vielleicht könnte der Text aber auch «gegen den Strich» gelesen werden indem diese Fragen als berechtigte Denkanstösse für das heutige Christentum verstanden werden.

«...was in den Schriften geschrieben steht»

Johannes verwendet einen doppelten Vergleich: Jesus wird einerseits mit einem verantwortungsvollen rechtmässigen Hirten verglichen; andrerseits bezeichnet sich Jesus als Türe, die zur Weide führt. Der Stall, wo Jesus seine Schafe hat, ist wohl als eine Art Gemeinschaftsstall zu denken, wo auch die Schafe anderer Hirten sind, die nicht zu Jesus gehören (Joh 10,26-27). Andrerseits hat Jesus seine Schafe auch anderswo (Joh 10,16). Es gibt offenbar verschiedene Arten von Schafen.
Das Motiv des «guten Hirten» begegnet bei der Lektüre der hebräschen Bibel auf Schritt und Tritt: Bereits in der zweiten Generation nach seiner Erschaffung wird der Mensch Hirt: Abel betätigte sich gemäss Genesis 4,2 als «Schäfer» während sein Bruder den Acker bearbeitete. Die Patriarchen Abraham, Isaak sowie Jakob und Esau waren Hirten. Es erstaunt nicht, dass diese Realität auch die theologischen Vorstellungen prägte: In den Psalmen wird Gott immer wieder als Hirte beschrieben, der sich rührend um seine Tiere kümmert, am schönsten wird dies wohl in Psalm 23 ausgedrückt: «Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zum frischen Wasser.» Auch das Hohe Lied, das in der jüdischen und christlichen Auslegung als Sinnbild der Liebe Gottes zu seinem Volk gilt, ist teilweise in einem «Hirtenmilieu» angesiedelt (Cant 1,7). Schliesslich taucht in den eschatologischen Vorstellungen das Bild des Hirten auf: «Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und allen Plätzen des Landes.» (Ez 34,13). Ein paar Verse weiter unten wird König David als Hirte bezeichnet, der das Volk weiden soll (Ez 34,23). Bei Ezechiel hat das Bild des Hirten eine deutlich politische Komponente: Der Hirt führt das Volk aus dem Exil in sein Land zurück. Diese politische Assoziation greift auch Johannes auf: Unsere Szene spielt sich am Tempelweihfest, an Chanukka ab. Chanukka erinnert an die jüdische Eroberung Jerusalems und die Reinigung des Tempels im zweiten vorchristlichen Jahrhundert nachdem dieser von den Seleukiden erobert und entweiht worden war. Zur Zeit Jesu befindet sich Judäa wieder in einer ähnlichen Situation: Dieses Mal sind es nicht die Seleukiden, die das Land besetzen, sondern die Römer. Diese schwierige Situation ruft verschiedene «Propheten» und «Messiasse» auf den Plan, die versprechen, das Volk zu befreien. Nicht selten enden solche Erlösungsversuche aber in der Katastrophe wie wir beim zeitgenössischen jüdischen Historiker Josephus Flavius nachlesen können. Jesus grenzt sich wohl von solchen falschen Hirten ab, wenn er vor «Dieben und Räubern» (Joh 10,1) warnt, die in den Schafstall einbrechen wollen. Unsere Johannes-Passage mit der Erwähnung des Hirtenmotivs und des Chanukka-Festes spielt demnach auf die aktuelle politische Situation an. Die Hoffnung der Menschen in dieser Situation auf einen Messias – nichts anderes bedeutet ja Christus –, der eben auch eine politische Rollen einnehmen soll ohne sie auf diese zu reduzieren, erscheint nur allzu verständlich.
Der Hirt weckt nicht nur Hoffnungen bei der ihm anvertrauten Herde, das Verhältnis zwischen Hirt und Tieren ist bei Johannes – auch und gerade auf dem Hintergrund älterer biblischer Vorstellungen – durch eine grosse Vertrautheit, ja Intimität geprägt: Der Hirte kennt seine Schafe und ruft sie bei ihrem Namen, auch die Schafe kennen den Hirten und folgen ihm nach. Das Wort «kennen», das an dieser Stelle bei Johannes mehrmals verwendet wird, hat im Hebräischen erotische Konnotationen, schliesst also sowohl geistige als auch körperliche Nähe ein. Der Mensch braucht offenbar einen «Ansprechpartner», der ihm vertraut und ähnlich ist, der ihn kennt. Der eine und allmächtige Gott kann als direkter Ansprechpartner zu abstrakt, zu entfernt sein. Auch die jüdische Theologie kennt «Mittler» zwischen Gott und Mensch, auch in der jüdischen Literatur können besonders herausragende Menschen oder sogar das ganze Volk als «Söhne Gottes» bezeichnet werden. Jesus selber weist in unserem Text auf solche jüdischen Traditionen hin (Joh 10,34). Selbst der streng monotheistische Islam kommt nicht ohne solche Mittler aus. Keine andere monotheistische Religion ging in dieser Frage allerdings so weit wie das Christentum, das die Einheit von Gott und seinem «Mittler» Jesus betont (Joh10,30).

Mit Johannes im Gespräch

Ich möchte Johannes10 auf zwei Arten «gegen den Strich» lesen:
1. Johannes lädt unsere Passage durch die Erwähnung des Hirtenmotives und des Chanukka-Festes politisch auf. Das «Ambiente» der gesamten Passage steht in einem gewissen Gegensatz zur ablehnenden Entgegnung Jesu auf die Frage der Juden. Diese Frage, Jesus solle sich doch endlich als Messias «outen», ist in diesem «Ambiente» gelesen nämlich angemessen. Es kann nicht darum gehen, die hier und jetzt geplagten Menschen durch die Aussicht auf ein ewiges Leben zu vertrösten. Jesus hat ja gemäss den Evangelien durchaus in der Welt gewirkt und sich für die Schwachen eingesetzt. Weist Jesus in unserem Text nicht selber auf seine Taten hin? Gleichgültigkeit oder Vertrösten ist angesichts von Unrecht inakzeptabel!
2. Unser Text könnte auch «gegen den Strich» gelesen werden indem man fragt, was in ihm nicht steht: Im «Türvergleich» hat der Exklusivitätsanspuch der Kirche über Jahrhunderte hinweg eine Stütze gefunden. Dabei geht das doch recht differenzierte Bild der unterschiedlichen Schafe leider verloren: Neben Jesu innehalb und ausserhalb des Stalls gibt es ja auch die «ungläubigen Schafe», die nicht zu Jesu Herde gehören (Joh 10,26). Diese werden zugegebenermassen eher negativ bewertet – aber in unserer Perikope bleibt offen, was mit diesen «ungläubigen Schafen» geschehen soll. Auf dem Hintergrund des Gleichnisses vom verlorenen Sohn ist eine weniger «exklusive» Lesart möglich: Der ältere Sohn braucht kein Bankett – keine Tür – da er schon immer beim Vater war und an dessen Besitz teilhat (Lukas 15,31).