Wir beraten

Das leere Grab – Gottes Treue zu Israel   

Hans Rapp zum Evangelium in der Osternacht, Lk 24,1–12 SKZ 12/2010

Die meisten Bibelausgaben signalisieren einen tiefen Einschnitt zwischen dem Ende des 23. und dem Anfang des 24. Kapitels des Lukasevangeliums. Es ist der Schnitt zwischen dem Tod und der Grablegung Jesu und der Erzählung von seiner Auferstehung. Die Jerusalemer Übersetzung titelt: «Nach der Auferstehung» und lässt damit ein siebtes grosses Kapitel des Lukasevangeliums beginnen. Das trifft für die parallelen Erzählungen bei Matthäus, Markus und Johannes zu. Alle drei beginnen ihre Erzählung vom leeren Grab damit, dass sie die Frauen, die am Morgen des ersten Tages zum Grab kommen, benennen. Sie unterscheiden sich allerdings darin, welche Frauen zum Grab kommen. Alle sind sich darin einig, dass eine davon Maria von Magdala gewesen ist. Bei Lukas ist das anders.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Lukas interpunktiert die Geschichte anders als die anderen Evangelisten. Die Einheitsübersetzung gibt den ersten Satz des Kapitels wie folgt wieder: Am ersten Tag der Woche gingen die Frauen mit den wohlriechenden Salben, die sie zubereitet hatten, in aller Frühe zum Grab. Welche Frauen? Der griechische Text ist noch sparsamer mit Informationen. Dort wird nur aus den Verbformen deutlich, dass die, welche zum Grab kommen, weiblichen Geschlechts sind. So lässt ein ambitionierter Schriftsteller – und so einer war Lukas ohne Zweifel – doch kein neues Kapitel beginnen! Und schon gar nicht einen neuen Buchteil. Das ist eigenartig.
Um zu wissen, wer diese ungenannten weiblichen Subjekte sind, muss man die beiden vorhergehenden Verse heranziehen. Es sind die Frauen, die mit Jesus aus Galiläa gekommen waren. Sie sind mit seinen «Bekannten» unter dem Kreuz gestanden (Lk 23,49) und waren dabei, als er bestattet wurde: Die Frauen, die mit Jesus aus Galiläa gekommen waren, gaben ihm das Geleit und sahen zu, wie der Leichnam in das Grab gelegt wurde. Dann kehrten sie heim und bereiteten wohlriechende Öle und Salben zu. Am Sabbat aber hielten sie die vom Gesetz vorgeschriebene Ruhe ein.
Lukas betont die jüdische Frömmigkeit dieser Frauen. Sie halten die vom Gesetz vorgeschriebene Sabbatruhe ein. Die Treue zum Sabbat ist in der jüdischen Tradition in hellenistischer Zeit das eindeutigste und sichtbarste Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Israel als Volk Gottes. In der grossen Krise des Judentums im zweiten vorchristlichen Jahrhundert sind die Frommen lieber in den Tod gegangen, als den Sabbat zu brechen (1 Makk 2,29–38). In dieser Zeit hat sich auch der Glauben an die Auferstehung der Toten definitiv entwickelt. Gott lässt seine Gerechten nicht im Stich, auch wenn diese ihre Treue zu ihm mit dem Tod bezahlt hatten (vgl. Dan 12,1–3; äthiopischer Henoch 22,11–14; 103,2–4). Das zweite Makkabäerbuch erzählt davon, dass sieben Brüder lieber den Tod auf sich nahmen, als das Gesetz zu brechen. Sterbend hält einer von ihnen seinem Peiniger entgegen, dass ihn die Hoffnung auf eine Auferweckung zu einem ewigen Leben letztlich unantastbar macht: Du nimmst uns dieses Leben; aber der König der Welt wird uns zu einem neuen, ewigen Leben auferwecken, weil wir für seine Gesetze gestorben sind (2 Makk 7,9). Die Auferstehungshoffnung war die Hoffnung der Menschen auf die unverbrüchliche Treue Gottes zu seinem Volk. Lukas signalisiert in der vorliegenden Perikope, dass ihm dieser Zusammenhang durchaus bewusst war.
Erst gegen Ende der Erzählung vom leeren Grab lüftet Lukas das Geheimnis der Identität der Frauen. Ihre Identität ist eine Art Pointe, auf die der gesamte Text hinausläuft: Es waren Maria Magdalene, Johanna und Maria, die Mutter des Jakobus und die übrigen Frauen, die bei ihnen waren (Lk 24,10). Diese Frauen sind im Evangelium keine Unbekannten. Im achten Kapitel des Lukasevangeliums treffen wir sie ein erstes – und bis zum Ende des Evangeliums auch letztes – Mal an: In der folgenden Zeit wanderte er von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf und verkündete das Evangelium vom Reich Gottes. Die Zwölf begleiteten ihn, ausserdem einige Frauen, die er von bösen Geistern und von Krankheiten geheilt hatte: Maria Magdalene, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, Johanna, die Frau des Chuzas, eines Beamten des Herodes, Susanna und viele andere. Sie alle unterstützten Jesus und die Jünger mit dem, was sie besassen (Lk 8,1–3).
Wie Lukas die Geschichte erzählt und interpunktiert, sollten wir sie als die Erzählung von den Frauen lesen, die vor dem Sabbat Abschied am Grab genommen hatten und gleich danach zurückgekehrt sind. Sie sind es, die ihn als letzte im Grab gesehen haben und sie sind die ersten Zeuginnen des leeren Grabes. Ihnen erscheinen auch im Inneren des Grabes die beiden Männer in «blitzendem Kleid», die sie an das erinnern, was Jesus ihnen in Galiläa noch vorhergesagt hatte. Die Erscheinung zweier Männer in leuchtenden bzw. blitzenden Gewändern ist für Lukas ein Zeichen für bedeutende Ereignisse. Sie erscheinen in der Erzählung von der Verklärung Jesu. Dort identifiziert sie der Evangelist mit Elija und Mose. Ihr Erscheinen hat einen direkten Zusammenhang mit dem Schicksal Jesu: Und plötzlich redeten zwei Männer mit ihm. Es waren Mose und Elija; sie erschienen in strahlendem Licht und sprachen von seinem Ende, das sich in Jerusalem erfüllen sollte (Lk 9,30 f.). So verankert er das Leben Jesu an prominentester Stelle mit der (Heils-)Geschichte des Volkes Gottes und seiner wichtigsten Gestalten. Mose als Gesetzgeber und Elija als Propheten und Gestalt der letzten Zeitenwende (Mal 3,22–23). Zu Beginn der Apostelgeschichte, die ebenfalls von Lukas stammt, begegnen wir erneut zwei Männern in weisser Kleidung. Sie lenken die Blicke derer, die Jesu Auffahrt in den Himmel hinterherblicken, auf das Wesentliche zurück und auf die Zukunft, die die Wiederkunft Jesu mit sich bringen wird. Die Frauen begleiten die Ereignisse des Todes und der Auferstehung Jesu. Sie sind die Kronzeuginnen des christlichen Glaubens.

Im Gespräch mit Lukas

In den vergangenen Jahrzehnten haben vor allem Frauen darauf aufmerksam gemacht, dass in der biblischen Tradition starke Frauenfiguren eine grosse Rolle spielen. Mirjam, Debora, Ruth, Esther oder Hulda sind Beispiele dafür aus der Tradition der hebräischen Bibel. Das griechische Judithbuch mit seiner starken und zugleich frommen Protagonistin – sie hält sich streng an die Gesetze und an den Sabbat (Jdt 8,6 und 10,2) – erzählt von der Rettung Israels durch den Mut dieser Frau. Auch die Mutter im zweiten Makkabäerbuch, die ihre Söhne sterben sieht und dennoch ihren Glauben nicht verrät (2 Makk 7), können wir getrost unter diese grossen Frauen Israels rechnen. Lukas reiht die Jüngerinnen Jesu in diese Tradition ein, wie er das bereits mit Maria, der Mutter Jesu (Lk 1,46–56) getan hat. Mit dem Verweis auf die Prophetin Hanna (Lk 2,36–38) verbindet er die Geschichte Jesu deutlich mit der Geschichte starker Frauen im Ersten Testament. Es ist vor diesem Hintergrund kein Ruhmesblatt für die Apostel, dass sie das Zeugnis der Frauen für leeres Geschwätz gehalten haben (Lk 24,11). Sie hätten es besser wissen können und müssen.

Dr. Hans Rapp ist Leiter des Katholischen Bildungswerkes Vorarlberg im Diözesanhaus in Feldkirch.