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Jesus als Konfliktmanager   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 5. Fastensonntag, Joh 8,1–11 SKZ 10/2010

Das achte Kapitel des Johannesevangeliums greift einen Dauerbrenner interreligiöser Konflikte auf: Es geht um die Stellung der Frau. Der Streit um die Stellung der Frauen bestimmt die Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam von Anfang an. Ging es früher in erster Linie um die im Islam erlaubte Polygynie, konzentriert sich der Konflikt zwischen islamischer und westlicher Welt heute auf die schlechte Situation der Frauen, die der je anderen Gemeinschaft vorgeworfen wird. Beklagt das christlich geprägte Abendland die mangelnde Emanzipation der Musliminnen, sieht man in der islamischen Welt die westliche Frau der männlichen Sexualität schutzlos ausgeliefert. Ob solche Auseinandersetzungen die Situation von Frauen verbessert haben, muss stark bezweifelt werden. Eher ist wohl das Gegenteil der Fall und der christlich-islamische bzw. west-östliche Streit wird teilweise auf dem Rücken von – in erster Linie islamischen – Frauen ausgetragen.
Doch die Stellung der Frauen war und ist nicht nur ein Streitpunkt zwischen Christen und Muslimen, der Konflikt um die «Frauenfrage» bestimmt teilweise auch die Auslegung der Evangelien. So wurde und wird Jesus von christlichen Exegeten und Exegetinnen immer wieder als «Frauenrechtler» dargestellt, der sich von einem «frauenfeindlichen» jüdischen Umfeld abhebe. Solche Auslegungen werden aber weder dem Text gerecht noch verbessern sie die Situation von Frauen. Wenig selbstkritisch wird durch solche Auslegungen ausserdem eine lange christliche Praxis ausgeblendet.

Wie in den Schriften geschrieben steht…

Das Johannesevangelium ist wahrscheinlich in einer Situation entstanden, in der sich frühe Christen und Juden voneinander trennten. Diese gespannte Situation seiner eigenen Zeit wird vom Verfasser des Johannesevangeliums in die Zeit Jesu projiziert. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Jesus im vierten Evangelium immer wieder in der Auseinandersetzung mit «den Juden» dargestellt wird. Zu diesen Streitgesprächen, die teilweise sehr feindselige und problematische Aussagen enthalten, gehört unsere Perikope. Trotz dieser sich abzeichnenden Trennung von Juden und Christen wurzelt aber auch der johanneische Jesus mit seinen Aussagen und seinem Handeln im Frühjudentum.
Das Verbot des Ehebruchs erscheint in den zehn Geboten (Ex 20,14; Dtn 5,18) und die hebräische Bibel sieht für die beiden beteiligten Parteien, den Mann und die Frau, die Todesstrafe durch Steinigung vor (Lev 20,10; Dtn 22,20–28). Für die Rabbinen gehört der Ehebruch zu den Kapitalverbrechen, für die ein Jude oder eine Jüdin eher das Martyrium auf sich nehmen sollte als sie zu begehen (bSan 74a). Damit die Todesstrafe gemäss jüdischem Recht verhängt werden kann, braucht es allerdings zwei Zeugen, was im Falle des heimlich begangenen Ehebruchs schwierig sein dürfte. Zur Zeit Jesu verfügte die jüdische Führung zudem nicht mehr über die Kapitalgerichtsbarkeit, Ehebrecher und Ehebrecherinnen wurden in rabbinischer Zeit wohl nicht mehr offiziell hingerichtet. Die Todesstrafe, welche das jüdische Recht vorsieht, drohte die Vollstrecker in Konflikt mit den römischen Behörden zu bringen. Auf diesem Hintergrund wird verständlich, dass die «Schriftgelehrten und Pharisäer» Jesus durch ihre Frage «versuchen» wollen, um ihn dann zu verklagen. Doch das ist nicht die einzige Schwierigkeit, vor welche die Richter im vorliegenden Fall gestellt waren: Auch die Rechtslage ist gemäss unserer Passage unklar. So fehlen die für eine Verurteilung nötigen Zeugen. Ausserdem wird nur die Frau vor Jesus gebracht, der Mann fehlt, was im Fall einer Ertappung «in flagranti» unverständlich ist. Die von den «Schriftgelehrten und Pharisäern» vor Jesus gebrachte Frage, wie die Ehebrecherin bestraft werden solle, ist demnach alles andere als banal.
Der Umgang mit konkreten Fällen von Ehebruch in der hebräischen Bibel verwirrt die Situation zusätzlich: Im Alten Testament wird an mehreren Stellen von begangenem oder versuchtem Ehebruch berichtet, ohne dass die Todesstrafe verhängt wird. Abraham gibt seine Frau Sara als seine Schwester aus und ist bereit, sie dem König Abimelech zu überlassen, um sein Leben zu retten, was im letzten Moment durch göttliches Eingreifen verhindert wird (Gen 20). Zu einer ähnlichen List greift Isaak (Gen 26). König David wurde für seinen Ehebruch mit Bat Scheva zwar durch den Tod seines ersten Kindes bestraft (2 Sam 12,9), zeugte nachher jedoch noch weitere Kinder und starb hochbetagt. Im Falle der verlobten Tamar wird der Ehebruch als Mittel zu einem höheren Zweck, der Zeugung von Nachkommen sogar legitimiert (Gen 38). Lediglich im apokryphen 14. Kapitel des Danielbuches werden die beiden Ältesten, welche Susanna vergewaltigen wollen, mit dem Tod bestraft.
In der hebräischen Bibel weist das Thema «Ehebruch» ausserdem auf eine weitere, symbolische Bedeutungsebene hin: Das Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel wird immer wieder als Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau beschrieben, das durch den «Ehebruch», d. h. durch verfehltes Handeln des Volkes auf die Probe gestellt wird. Im Buch Hosea ist die Ehe des Propheten mit einer Hure beispielsweise ein Ausdruck für die Untreue des Volkes (Hos 1,2 f.). Auch Jesu Schreiben auf die Erde in Joh 8,6 und 8,8 – es ist dies übrigens die einzige Stelle, wo von einem Schreiben Jesu berichtet wird! – weist auf diese metaphorische Ebene: In Jer 17,13 heisst es, dass die «Abtrünnigen auf die Erde geschrieben werden». Wie in unserer Passage kehrt in den prophetischen Schriften die ehebrecherische Frau, d. h. das «abtrünnige Volk» um und wird von ihrem Geliebten, d. h. von Gott wieder aufgenommen!
Der auf den ersten Blick eindeutige Fall, dass eine Ehebrecherin hingerichtet werden muss, entpuppt sich als komplexe Frage. Jesus bewegt in einem Kontext, der mehrere Deutungen und einen unterschiedlichen Umgang mit Ehebruch zulässt.

Im Gespräch mit Johannes

Jesus gibt gemäss Johannes nicht sogleich Antwort, sondern bückt sich, um auf die Erde zu schreiben. Tut er dies, um Zeit zu gewinnen? Oder schreibt er seine Antwort auf die Erde, bevor er sie ausspricht? Wie auch immer: Jesus erweist sich in dieser schwierigen Situation – durchaus im Rahmen des Frühjudentums – als begabter «Konfliktmanager»: Er teilt keine ungenügend begründeten Anschuldigungen aus, sondern ruft die Ankläger zunächst einmal zur Selbstreflexion auf. Auch Jesus selber bestraft die Frau nicht, sondern ruft sie zur Umkehr auf. Das Vorbild von Jesu unaufgeregtem Verhalten in dieser brenzligen Situation könnte nicht nur die grossen Konflikte etwas entschärfen, sondern vielleicht auch in kleinen alltäglichen Reibereien weiterhelfen.
Das vorsichtige Lösen des Konfliktes geschieht allerdings nicht ohne Risiko: Unsere Passage fehlt in den ältesten Handschriften der Evangelien. Möglicherweise hat die Geschichte von der Ehebrecherin Anstoss erregt: Nicht nur wird die des Ehebruchs verdächtige Frau schlussendlich nicht bestraft, auch Jesus selber lädt dadurch, dass er keinen Stein wirft, den Verdacht auf sich, dass er sich selber für einen Sünder hält. Nicht der eigene gute Ruf, das Bestreben, am Schluss «gut dazustehen», soll beim Lösen eines Streitfalles im Zentrum stehen!

Dr. phil. Simone Rosenkranz ist nach dem Studium von Judaistik, Islamwissenschaft und Philosophie in Luzern, Basel und Jerusalem als Fachreferentin an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern sowie als Lehrbeauftragte an der Universität Luzern tätig