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Neu zu entdecken: «Mitleid»   

Dieter Bauer zum Evangelium am 9. Sonntag im Jahreskreis, Lk 15,1–3.11–32 SKZ 9/2010

Das sogenannte «Gleichnis vom verlorenen Sohn» gehört zu den bekanntesten Texten der Bibel. Das heisst, dass die meisten Hörerinnen und Hörer immer schon längst zu wissen meinen, was im Text geschrieben steht und was dies zu bedeuten hat. Umso wichtiger dürfte die Konzentration auf den genauen Wortlaut des Textes sein.
Ausnahmsweise möchte ich dieses Mal eine Kürzung der Evangelienlesung vorschlagen. Die Situierung (15,1–3) der Gleichniserzählungen von der Freude über das Verlorene (verlorenes Schaf, 15,4–7; verlorene Drachme, 15,8–10) soll nur zusammen mit dem ersten Teil der parallel aufgebauten zweiteiligen Gleichniserzählung zur Sprache gebracht werden (15,11–24), so dass das Evangelium endet mit: Und sie begannen, ein fröhliches Fest zu feiern.

«… was in den Schriften geschrieben steht»
Jesus von Nazaret war ein hervorragender Erzähler. Und wie jeder gute Erzähler vermag er in nur wenigen Worten eine spannende Situation vor Augen zu stellen: Ein Mensch hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen … Allen Zuhörenden ist sofort klar, dass hier ein Konflikt abgehandelt wird. Die beiden Söhne werden gegensätzlich sein, sonst wäre die Geschichte langweilig. Wer mit den Heiligen Schriften vertraut ist, denkt natürlich sofort an viele bereits bekannte Brüderpaare: Kain und Abel, Ismael und Isaak, Esau und Jakob, Efraim und Manasse … Welcher ist der gute, welcher der schlechte Sohn? Wer wird bevorzugt, wer benachteiligt? Die Zuhörenden wollen sich identifizieren. Und eine wirklich gute Geschichte spielt mit den Erwartungen der Zuhörenden – und überrascht sie.
Was der Jüngere nun tut, ist zwar erlaubt, gilt aber als nicht besonders schicklich. Er fordert vorzeitig sein Erbteil ein und sieht seine Zukunft nicht mehr länger am väterlichen Hof, den einmal der ältere Bruder übernehmen wird: und er zog in ein fernes Land. Was folgt, ist nun allerdings nicht so verwerflich, wie man oft meint: Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen. Diese «Haltlosigkeit» (so wörtlich) ist doch bei einem jungen Menschen, der seine ersten Erfahrungen mit der Selbstständigkeit macht, nicht gar so verwunderlich. Wir heutigen Zuhörenden, die wir bereits die ganze Geschichte immer schon kennen, werden in diesen Worten die späteren Vorwürfe des älteren Bruders mithören: dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat (15,30). Das aber sind die Phantasien des enttäuschten und «braven» älteren Bruders. Im Text steht davon nichts. Ausser Dummheit, nämlich dass er für eventuell kommende Notlagen nicht vorgesorgt hat, ist dem jungen Mann nichts vorzuwerfen. Und Dummheit ist bekanntlich nicht strafbar. Für die kommende Hungersnot kann er nun wirklich nichts.
Mir scheint bei allem, was nun folgt, wichtig zu sein, dass es gerade nicht um moralische Schuld und Reue geht: Der junge Mann gerät in Not, er ist am Verhungern und überlegt klug, wie er wieder zu etwas Essbarem kommt. Bei seinem Vater «zu Kreuze zu kriechen» ist für ihn der einzige Ausweg, den er sieht. Ob das funktionieren würde, kann er nicht wissen. Womöglich sind seine geplanten Selbstvorwürfe nicht einmal wirklich ernst gemeint, sondern eher taktischer Natur: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner (15,18 f.). So wie Jesus die Geschichte erzählt, spielen die vorgebliche (?) Reue und die geplanten Selbstvorwürfe nämlich sowieso keine Rolle. Denn: Der Vater sah ihn schon von weitem kommen und er hatte Mitleid mit ihm.
Ohne überhaupt zu wissen oder zu fragen, ohne ihm vorher «die Beichte abzunehmen», schliesst der Vater seinen verlorenen Sohn wieder in die Arme. Wer die Heiligen Schriften kennt, spürt sofort, dass dieses «sehen» und «Mitleid haben» Gottesprädikate sind. Ja, sie sind geradezu typisch für den Gott Israels: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreissen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fliessen (Ex 3,7 f.). So wie der Gott Israels das Elend des «verlorenen Volkes» (Jer 50,6) sieht und nicht anders kann als zu handeln, so sieht der Vater im Gleichnis das Elend des verlorenen Sohnes und handelt aus Mitleid. Was aber ist «Mitleid»?
In unserem heutigen Sprachgebrauch hat «Mitleid» ja keinen besonders hohen Stellenwert. Wenn die Bibel aber von «Mitleid» spricht, dann klingt etwas ganz anderes mit. Das zu Grunde liegende griechische Wort (splagchnizesthai) spricht von einer Regung der Eingeweide, heute würden wir sagen «aus dem Bauch». Auch das hebräische Wort für «Barmherzigkeit» spricht übrigens von «Eingeweiden» (rahamim), heisst allerdings auch «Mutterschoss», was auf eine weibliche Komponente dieses Gefühls hindeutet! Mitleid ist also etwas, was «aus dem Bauch kommt», nicht «über den Kopf». Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37), wo die beiden Begriffe «Mitleid» und «Barmherzigkeit» synonym gebraucht werden, kann man die Gegensätze zwischen «Kopf» und «Bauch» sehr schön sehen: Priester und Levit haben beide sicher sehr vernünftige Argumente, warum sie zwar «sehen», aber nicht helfen (Angst vor Räubern, vor einer Falle, vor Unreinheit, Zeitmangel, …). Sie reagieren «über den Kopf», nicht «aus dem Bauch heraus». Ganz anders der Samariter: Nachdem er das Elend «gesehen» hat, kann er gar nicht anders, als zu helfen.
Nur nebenbei sei bemerkt, dass die «Barmherzigkeit» auch im Islam der erste und wichtigste der 99 Namen Gottes ist. Jede Sure des Korans (bis auf eine) beginnt mit: bismi ’llahi r-rahm ani r-rahim («Im Namen Gottes, des barmherzigen und gnädigen»).
Kategorien der Vernunft reichen nicht aus, dieses barmherzige Handeln «aus dem Bauch heraus» zu erklären. Dazu braucht es die Kategorie einer Liebe, wie sie vielleicht wirklich nur in der «Unvernunft» mancher Mutter- oder Vaterliebe annähernd erfahrbar ist: Holt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand und zieht ihm Schuhe an. Bringt das Mastkalb her und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein.
Gerecht, etwa dem älteren Sohn gegenüber, ist solches Handeln nämlich nicht. Aber das wäre noch einmal ein anderes Thema.

Mit Lukas im Gespräch
«Mitleid» ist ein Wort, das sonst im Lukasevangelium nur noch zweimal auftaucht. Dort wird diese Eigenschaft vom barmherzigen Samariter (s. o.) oder von Jesus selbst ausgesagt. «Mitleid» ist es nämlich, was Jesus der Mutter des Jünglings von Nain gegenüber empfindet und was ihn spontan helfen lässt (Lk 7,13).
Wie die Liebe (Hld 8,6), so ist offensichtlich auch «Mitleid» stark wie der Tod! Vielleicht wäre es an der Zeit, das «Mitleid» – oder wie Johann Baptist Metz es immer wieder beschrieben hat: die compassion – wieder neu als christliches Handlungsprinzip zu entdecken?