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Arm und Reich – eine Grundkonstante der Menschheit   

Winfried Bader zum Evangelium am 6. Sonntag im Jahreskreis: Lukas 6,17.20–26 SKZ 5/2010

Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen in armen Ländern, Korruption in Schwellenländer, all diese aktuelle Themen verdeutlichen, dass die Schere von Armen und Reichen sich stetig weitet.

«…was in den Schriften geschrieben steht»

Die Feldrede des Lukas ist benannt nach der Ortsbeschreibung «ebener Platz» in Lk 6,17. Jesus greift – wie auch in der «Bergpredigt» (Mt 5) – das Thema Arm und Reich auf. So wie das Thema heute noch aktuell ist, so war es damals schon alt. Die Seligpreisungen und Weherufe (Lk 6,20–26) sind eine Zwischenstufe.
Drei Begriffe in der Feldrede führen auf eine Spur, in welcher religiösen Tradition der jüdischen Schriften das Thema eingebettet ist.
Zum einen der Begriff Volk (gr. laos), der in der Einleitung (Lk 6,17) und Schluss der Rede (Lk 7,1) genannt wird. Neben den Schülerinnen (gr. mathetai), die den inneren Kreis darstellen, ist das Volk Adressat der Rede. Laos ist in den Jesus bekannten jüdischen Schriften immer das auserwählte Volk. Dass es auch aus dem nicht-jüdischen Gebiet von Tyrus und Sidon herbeiströmt, mag bereits eine Ausweitung im Sinne der Völkerfahrt des Jesaja (Jes 2,2–3) sein. Das Volk kommt, um heil zu werden. Nicht der Empfang von ethischen Normen ist die Motivation des Volkes, sondern das konkrete Heil, die Heilung von Krankheit und unreinen Geistern (Lk 6,18–19). Jesus redet erst, nachdem die heile Wirklichkeit greifbar ist.

Der zweite Begriff gibt den Seligpreisungen ihren Namen. Es ist der vier Mal einleitend vorkommende griechische Begriff makarioi. Die gewöhnlich verwendete deutsche Übersetzung «selig» (Einheitsübersetzung, Luther, Zürcher, Elberfelder: glückselig) führt zweifach in die Irre: Zum einen, weil der Begriff «selig» eine viel zu fromme Konnotation hat. Dabei geht es doch mit diesem Begriff ganz konkret um das weltliche Glück. Es wird kein Segen zugesprochen (so die gängigen Englischen Übersetzungen: blessed), sondern Glück angesagt. Zum anderen verdeckt «selig» den Zusammenhang zu Ps 1,1. Hier steht ebenfalls griechisch makarios, leider oft mit «Wohl» übersetzt, beides Mal angemessen wäre «glücklich»! Psalm 1 zeigt zwei Alternativen: den Weg des Gerechten und den Weg der Frevler, der am Ende in den Abgrund führt. Es wird aber nicht zu einer Entscheidung aufgefordert, sondern der glücklich gepriesene Mann ist schon entschieden: Er hat den Weg der Weisung gewählt. Er liest in den Schriften tags und nachts. Wenn Jesus in seiner Rede hierauf anspielt, heisst das: Er spricht die Menschen auch als Entschiedene an. Er wendet sich an die, die durch Heilung schon konkretes Glück erfahren haben und sich entschieden haben, die Weisung anzuerkennen. Die Glücklich-Preisungen stammen aus einem weltlichen Kontext. Es ist eine Lebenslehre, die es gutheisst, einem König zu folgen. Auch bei König Salomon findet das seinen Niederschlag, wenn es heisst: «Glücklich (gr. makariai) sind deine Männer (LXX: Frauen), glücklich diese deine Diener, die allezeit vor dir stehen und deine Weisheit hören!» (1 Kön 10,8). Dieser Bezug zu einem König ist wesentlich für solche Preisungen.

Das dritte sind die Propheten. Auf den Vergleich mit den Propheten laufen beide Abschnitte, die Glücklichpreisungen und die Weherufe hinaus. Das zeigt die ganze Struktur der Abschnitte, die allerdings in den Übersetzungen verschleiert wird. Nach dreimaligem begründendem oti = «denn» nach den ersten drei Rufen, fehlt oti jeweils beim vierten Mal, stattdessen steht vergleichendes kata = «demgemäss». Die Gepriesenen bzw. Gescholtenen werden mit den früheren Propheten verglichen, mit den Propheten und Pseudopropheten, den wahren und falschen Propheten. Damit taucht Jesus ein in die biblisch-rabbinische Diskussion über das Schicksal wahrer Propheten. In der bunt erzählten Szene 1 Kön 22 wird der wahre Prophet Micha ben Jimla ins Gefängnis gesteckt (1 Kön 22,26). Von Jeremia kennen wir all die Verspottungen, die er ertragen muss, und in seinen Bekenntnissen erfahren wir, wie er fast daran zerbricht, dass die falschen Propheten, welche schnelles Heil versprechen, gelobt und geehrt werden, während er selbst dem Spott ausgesetzt ist (Jer 11,18–12,6; 15,10–21; 17,12–18; 18,18–23; 20,7–18). Es gipfelt in seinem Aufschrei: «Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde!» (Jer 20,14). «Warum nur kam ich hervor aus dem Mutterschoss, um nur Mühsal und Kummer zu erleben?» (Jer 20,18). Sein Kollege Urija wird gar umgebracht (Jer 26,20–24). Wenn also Jesus die Armen, die Hungernden, die Weinenden und die Verhassten mit den wahren Propheten vergleicht, dann spielt er auf dieses Schicksal eines Jeremia und Urija oder auch eines Gottesknechtes (Jes 53) an und gibt Hoffnung auf die längere Gerechtigkeit, die sich durchsetzt. Vielleicht nur eine Vertröstung, aber es sind die angesprochen, die er zuvor geheilt hatte. Umgekehrt sind die Reichen, Satten, Lachenden und Gelobten wie Falschpropheten, die – auch dazu gibt es viele Erzählungen – ein schnelles Lob und schnelle Freude erhalten. Dies ist aber nur von kurzer Dauer, denn diese Erzählungen zeigen deutlich die Konsequenz von Psalm 1, dass ein solcher Weg nicht dauerhaft trägt.

Mit Lukas im Gespräch

Armut, Hunger, Trauer und Hass sind so alt wie die Menschheit. Und schon immer gab es gleichzeitig Reiche, Satte, Lachende und mit Lob Überschüttete. In weisheitlicher Gelassenheit sagt uns Kohelet (Koh 3), dass es für alles seine Zeit gibt. Genauso lang gibt es aber in den jüdischen Schriften auch den Traum der Veränderung, dass sich der gegebene Zustand dreht und ändert, nicht irgendwann, sondern jetzt: «JHWH macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht. Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub, und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt; er gibt ihm einen Ehrenplatz bei den Edlen!» (1 Sam 2,7–8). So singt schon Hanna, und Maria singt ihr später nach.
Die Hoffnung auf diese Veränderung drückt sich auch in Psalmen aus: «Doch die Armen werden das Land bekommen, sie werden Friede in Fülle geniessen!» (Ps 37,11). «Die mit Tränen säen, werden mit Jubeln ernten!» (Ps 126,5).
Auch die Umkehrung kommt in den Psalmen vor: «Reiche müssen darben und hungern, wer aber JHWH sucht, braucht kein Gut zu entbehren» (Ps 34,11 LXX). Es ist aber nicht nur eine Hoffnung und ein vertröstendes Abwarten, sondern Herausforderung zum Engagement: «Das ist ein Fasten, wie ich es liebe: an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen» (Jes 58,6.7).
Und Jesus selbst? Er selbst tritt bei seinem ersten öffentichen Auftreten im Lukasevangelium unter Rückgriff auf die jüdischen Propheten genau mit dieser Botschaft an: «Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, dass ich den Armen eine frohe Botschaft bringe, und alle heile, deren Herz zerbrochen ist, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde, und den Gefesselten die Befreiung» (Jes 61,1–2 = Lk 4,18).

Dr. Winfried Bader ist Alttestamentler, war Lektor bei der Deutschen Bibelgesellschaft und Programmleiter beim Verlag Katholisches Bibelwerk in Stuttgart und arbeitet nun als Pastoralassistent in Sursee.