Wir beraten

Einer mit Vollmacht   

Andrea Moresino-Zipper zum Evangelium am 4. Sonntag im Jahreskreis, Lk 4,21–30 SKZ 3/2010

Eine Menschenmenge. Dicht nebeneinander bewegen sie sich in dieselbe Richtung. Sie sind aufgebracht, weil ihre Gefühle verletzt und ihre Werte verraten wurden. Dafür stehen sie zusammen und dagegen treten sie ein. Dieses Bild ist nicht unbekannt. Wir kennen es aus den Medien. Doch etwas ist anders. Einer dreht sich um, wendet sich gegen sie und will in die gegengesetzte Richtung, entgegen dem Menschenstrom gehen. Dies scheint unmöglich, es sind zu viele. Oder gelingt es doch?

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Lukas berichtet – im Unterschied zu den Evangelisten Markus und Matthäus – in zwei Versen vom ersten Auftreten Jesu in Galiläa. Geisterfüllt tritt er dort auf und lehrt in den Synagogen und er wurde von allen gepriesen (Lk 4,15). Die Erfüllung Jesu mit dem heiligen Geist ist bei Lukas von zentraler Bedeutung. Bereits in Lk 1,35 erfahren wir von der Zeugung Jesu durch das Wirken des Geistes an Maria, und vor dem ganzen Volk wird diese Zusage offenbar bei seiner Taufe durch die Sichtbarwerdung des Geistes und die Bestätigung durch Gott (Lk 3,21–22). Doch Jesu Lehre in der Synagoge seiner Heimatstadt Nazaret wird nur kurz mit Beifall bedacht, denn seine Herkunft und sein begnadetes Sprechen passen für die Menschen, die ihn von Kindesbeinen an kennen, nicht zusammen. Die Frage Ist das nicht der Sohn Josefs? in Lk 4,22 – Markus und Matthäus sprechen vom Sohn des Zimmermanns – ist die einzige direkte Aussage des Volkes in dieser Perikope. Jesus bestreitet diesen Abschnitt quasi in der Form eines Monologes, es kommt kein Dialog zustande, und er führt die Frage durch die Antwort in V. 23 fort: Das Volk erwartet sich auch Taten von ihm. Gerade in seiner Heimatstadt soll er doch als einer der ihren sie jene Wunder sehen lassen, von denen sich in Galiläa die Kunde verbreitete (Lk 4,14). Doch die Heilungen, die Jesus vollbrachte, folgen bei Lukas erst in 4,31–41. An dieser Stelle wird die Umstellung der Markusvorlage durch Lukas sichtbar. Markus berichtet von den Heilungen bereits in seinem ersten Kapitel (VV. 21–34) und von der Begebenheit in Nazaret in 6,1–6. Das in der Antike bekannte Sprichwort Arzt, heile dich selbst, wird im übertragenen Sinn hilf deinen Verwandten, hilf deiner Heimatstadt, verwendet. Im Vergleich mit Markus und Matthäus spricht Jesus an dieser Stelle nicht von seinen Verwandten oder seiner Familie (vgl. Mk 6,4; Mt 13,57). Die Menschen in seiner Heimat wollen Jesus für sich, doch Jesus ist nicht exklusiv nur zu ihnen gekommen.
Das Amen-Wort in Lk 4,24 ergänzt und erweitert V. 23. So sagt Jesus im Thomas-Evangelium 31: Ein Prophet wird in seinem Heimatort nicht anerkannt; ein Arzt heilt die nicht, die ihn kennen. Dieselbe Aussage finden wir in Papyrus Oxyrhynchos 1,6. Lukas hat diese Verknüpfung in zwei Verse aufgeteilt und mit dem erklärenden Einschub getrennt. Als Prophet nimmt Jesus am Schicksal der Propheten teil und die Aussage, dass sich in ihm die Schrift erfüllt, wird von den Seinen nicht angenommen und Lukas stellt diese Menschen als Vertreter des ungläubigen Israels dar.

Jesus geht noch einen Schritt weiter und erzählt zwei Begebenheiten aus dem Ersten Testament: Aus dem Buch der Könige berichtet er von der Sendung des Elija zu einer Witwe nach Sarepta (1 Kön 17,9) und von der Heilung des Syrers Naaman durch den Propheten Elischa (2 Kön 5,14). Es hat den Anschein, dass diese beiden in die Fremde weisenden Beispiele die Erklärung dafür wären, dass Jesus in seiner Heimatstadt keine Taten vollbringt. Die Wut und Aufgebrachtheit der Menschen in V. 28 scheint berechtigt, da Israel in Tagen der Not von ihrem Gott übergangen wurde und Fremde begünstigt wurden. Scheint der Evangelist auch ein Heidenchrist gewesen zu sein, so sind die VV. 25–30 nicht in erster Linie als Aufforderung zur Heidenmission zu verstehen. Diese Verse wurden von Lukas übernommen, und erst in Lk 24,47 gibt der Auferstandene Weisung zu einer Heidenmission (… wird man allen Völkern, angefangen in Jerusalem, verkünden, …). Die jüdischen Bewohner von Nazaret erwarten sich Taten und nicht eine Verwerfung ihres Landes und die Bevorzugung der Heiden.

Ob es sich bei dem Tötungsversuch an Jesus um eine mögliche Steinigung handelte, davon berichtet Lukas nichts. Der möglicherweise identifizierte Abhang befindet sich ca. zwei Kilometer ausserhalb Nazarets. Es ist schwer vorstellbar, dass die aufgebrachte Menge einen derartigen Weg auf sich nimmt, um Jesus dann einfach davongehen zu lassen. Doch die Zeit Jesu ist noch nicht gekommen. In Lk 13,33 spricht er davon, dass ein Prophet nirgendwo anders als in Jerusalem umkommen darf.

Mit Lukas im Gespräch

Lukas stellt mit dieser Perikope das Programm Jesu vor. Im Vergleich zu Mk 1,15 (Erfüllung der Zeit) kündigt Lukas die Erfüllung der Schrift an (4,21). In Jesus erfüllt sich die Schriftstelle und somit die Botschaft der alttestamentlichen Propheten. Das Heute hat bei Lukas eine christologische Konnotation und er verwendet es an weiteren Stellen seines Evangeliums (2,11; 19,9; 23,43). Es stellt den Menschen hier und jetzt, heute die Frage, ob sie Christus annehmen oder ihn verwerfen. Mit Jesu Auftreten ist die Heilszeit angebrochen, doch die Menschen von Nazaret nehmen diese Chance nicht wahr.

Bei Lukas ist dieser Schlussvers der Perikope ein Hinweis auf die kommende Passion. Unter normalen Umständen hätte ein solches Geschehen kein gutes Ende genommen.
Die anfangs gestellte Frage wird wahrscheinlich negativ zu beantworten sein, denn es ist schwer vorstellbar, dass sich jemand gegen eine Menschenmenge wendet und erfolgreich diese in gegengesetzter Richtung passieren kann. Zuviel Dynamik ist in dieser Menge von Menschen vorhanden. Welche Vollmacht muss jemand besitzen, um sich einen Weg durch ein aufgebrachtes Volk zu bahnen, dieses zu veranlassen, beiseite zu gehen, um ihn hindurchschreiten zu lassen? Die Unversehrtheit und der Weggang Jesu ist abschliessend das Zeichen, auf welches die Menschen aus Nazaret gewartet haben. Ob sie es als solches wahrgenommen haben?

Andrea Moresino-Zipper ist Doktorandin an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg und Mitglied des Zentralvorstands des Schweizerischen Katholischen Bibelwerkes.