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Berufungen   

Hanspeter Ernst zum Evangelium am 5. Sonntag im Jahreskreis, Lk 5,1 – 11 SKZ 4/2010

«Ach, schon wieder eine biblische Geschichte» – oder: «schon wieder in der Bibel nachschlagen müssen» … Sie ist bekannt, diese Reaktion. Und sie lähmt. Sie ist aber auch wirksam und verhindert, dass selbst die, die sich mit der Bibel von Berufswegen auseinandersetzen müssten, dies gern und oft tun. Lohnt es sich denn noch, die Strapaze einer gründlichen Lektüre auf sich zu nehmen? Es gibt ja so viele Lebensweisheiten, über die diskutiert werden kann.

Mit den Schriften Israels lesen

Wieder beginnt Lukas mit «und es geschah». Einmal mehr sagt er damit den Lesenden: «Passt auf, lest aufmerksam! Es kommt etwas Wichtiges.» Die Menge bedrängt Jesus und hört das Wort Gottes – das sind die Worte der Tora, eben jene Worte, die niedergeschrieben sind. Aber das scheint im Moment gar nicht so wichtig zu sein, viel wichtiger ist der Ort: der See von Gennesaret. Lukas verwendet dafür nicht das Wort «Meer», wie es Markus und Matthäus tun, sondern «See». Bei Markus und Matthäus hat dieses «Meer» eine besondere Bedeutung: Es erinnert nicht nur an die Chaosmächte. Es ist auch ein Wahrzeichen für die Schrecken des jüdischen Krieges. Josefus erzählt, dass die Römer im Jahre 67 n. über den See von Gennesaret Fliehende verfolgt und massakriert hätten, so dass der ganze See aussah, «wie von Blut gerötet und wie von Leichen angefüllt» (Bell 3, 526 -531). Lukas spricht dagegen von «See». Offenbar will er damit das Erinnerungsfeld eingrenzen. Es kommt ihm nicht auf den Schrecken des Sees an, sondern auf das Wasser, die Boote, die Fischer und Fische. Jesus lehrt wie für die Gelehrten üblich sitzend; eher unüblich ist, dass er vom Boot aus die Worte der Tora lehrt. Vielleicht klingt hier an, dass die Worte der Tora wie Wasser sind, wie dies MekhY zu Ex 15,22 festhält: «»«šUnd sie fanden kein Wasser’ (Ex 15,22): Sie finden nicht Worte der Tora, welche mit Wasser verglichen werden. Und woher entnehmen wir, dass sie (die Tora) mit Wasser verglichen wird? «»šAuf, ihr Durstigen, alle geht nach dem Wasser’ (Jes 55,1).» Damit könnte die Szene des vom Boote aus lehrenden Jesus auch so gedeutet werden: Jesus lehrt tief verankert in der Tora, aus ihr heraus, gleichsam in ihr schwimmend – wie das Boot im Wasser – die Tora.

Szenenwechsel

Jesus hört auf zu reden. Es wird nicht beschrieben, wie das Volk reagiert. Dieses verschwindet. Dafür aber erzählt Lukas, wie Jesus den Simon auffordert, in die Tiefe hinauszufahren und die Netze auszuwerfen. Simon erwähnt seine vergebliche nächtliche Arbeit – «aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen» (5,5). Das Wort Jesu setzt in Bewegung, genau so, wie es damals die Hirten in Bewegung setzte, um «das Wort zu sehen, das der Herr uns kundgetan hat» (2,15). Sie fahren hinaus, und der Fischfang ist so gross, dass die Netze zu reissen drohen und sie um Hilfe nachsuchen müssen. Jetzt erst taucht das andere Boot mit den Gefährten wieder auf. Die Boote drohen ob der Last der Fische zu sinken. Simon bittet Jesus, den er als Herr bezeichnet, wegzugehen, denn er ist ein sündiger Mensch. Was soll diese Bitte? Bisher war im Lukas-Evangelium von Simon nur einmal im Zusammenhang mit seiner Schwiegermutter die Rede (4,38ff). Dass Simon gesündigt haben sollte, wird nicht erwähnt. Setzt Lukas die anderen Evangelien voraus und rechnet damit, dass seine Zuhörenden die Geschichte der Verleumdung kennen? Oder will er einfach sagen: Wo Gott sich offenbart, sind alle Menschen Sünder, da niemand für sich beanspruchen kann, sündlos zu sein? Ich denke, dass dies wohl kaum so ist. «Denn er und alle mit ihm erschraken über den Fang» (5,9). Der Fang löst das Erschrecken aus. Er verunsichert. Deshalb scheint es mir wahrscheinlicher zu sein, dass Simon, obwohl er Jesus auf sein Wort hin gehorcht hat, letztlich nicht davon überzeugt war, das Unternehmen auch erfolgreich abschliessen zu können. Er sagt zwar «auf dein Wort hin», ohne sich voll auf dieses Wort zu verlassen. Der Fang steht ja quer zur Alltagserfahrung eines Fischers. Er steht quer zum Sachverstand. «Auf dein Wort hin» bringt die eigenen Massstäbe, das Vertraute, Berechenbare und Bekannte durcheinander. Kann es sein, dass das, worauf man vertraut, zu sehr einem eigenen Bild, einem Wunsch vielleicht entspricht, und dass es damit das Neue verhindert, das es gerade ermöglichen wollte? Ist es das, was Simon als Sünde erkennt?

Einer ist nicht genug
In die Nachfolge wird aber nicht nur Simon gerufen, Jakobus und Johannes, die beiden Söhne des Zebedäus gehören dazu. Simon und Jesus müssen sie um Hilfe bitten, weil der Fang für sei beide viel zu gross ist. Es geht also nicht darum, einen Mangel zu beheben, sondern mit dem Überfluss fertig zu werden. Zwar sagt Jesus nur zu Simon: «Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen» (5,10). Aber vermutlich trifft es auch auf die beiden anderen zu. Dennoch hinterlässt das Bild einen zwiespältigen Eindruck: Menschen fangen. Deshalb ist der Kontext genau zu lesen. Für einen Fischer ist ein grosser Fischfang ein Glück. Es geht um den Überfluss, der in die Nachfolge ruft.

Mit Lukas im Gespräch

Lukas bringt die Berufung von JüngerInnen in Zusammenhang mit der Auslegung der Tora durch Jesus. «Und es geschah: Während das Volk sich um ihn drängte und das Wort Gottes hörte» (5,1). Das Volk drängte sich. Irgendwie steht dieser Anfang in einem Kontrast zur Geschichte von der Berufung des Simon – nicht aber derjenigen der Söhne des Zebedäus. Denn diese beiden werden zu Hilfe gerufen, weil der Fang zu gross ist. Simon dagegen hat keinen Erfolg, mindestens ist er derjenige, der die Erfolglosigkeit des nächtlichen Fischfanges thematisiert. Aber er verlässt sich auf das Wort Jesu, das ihn trägt. Und Jesus verlässt sich auf das Boot des Simon, das ihn trägt. Es braucht das solide Handwerk und es braucht die Vision. Wie Jesus die Worte der Tora erschliesst, so dass sich viele Menschen aufmachen, so sollen es auch die in seine Nachfolge Gerufenen tun: Nicht die Verlängerung des Bestehenden, des Gewohnten, nicht die Verdoppelung dessen, was ist, ist die Verkündigung. Wenn Tora Leben spenden soll, dann muss sie den Raum, in dem wir sind, aufsprengen, das Gewohnte durchbrechen, dann muss sie den Reichtum thematisieren, der durch ihr Tun erschlossen wird. Oder mit den Worten eines Gleichnisses, das die Rabbinen in Anschluss an Gen 48,16 erzählten: «Gleich Fischen: Sie werden im Wasser gross. Sobald auch nur ein Tropfen von oben hereinkommt, nehmen sie ihn durstig auf, als hätten sie noch nie Wasser genossen. So die Israeliten: Sie werden im Wasser, in der Tora, gross. Sobald sie etwas Neues aus der Tora hören, nehmen sie es durstig auf, als hätten sie noch nie etwas aus der Tora gehört» (BerR 97,3). Für die Fische ist das Wasser so selbstverständlich, dass sie sich dessen gar nicht bewusst sind. Erst wenn sich etwas verändert, also wenn Wasser in Wasser tropft, schnappen die Fisch danach, wie wenn sie das Wasser nicht kennen würden. Eine gute Auslegung ist der Wassertropfen. Er macht klar, wovon wir immer schon leben.

Hanspeter Ernst