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Vom Innen und Aussen des Glaubens   

Hans Rapp zum Evangelium am Aschermittwoch, Mt 6,1-18

in: SKZ 5/2010

Wieder einmal ist die Fastnacht vorüber. Mit dem Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit. Das Bewusstsein, dass nach den Ausgelassenheiten und den vielschichtigen Ausschweifungen der Fastnacht eine Zeit der Einkehr und der Besinnung ansteht, reicht weit über die Kreise regelmässiger Besucherinnen und Besucher der kirchlichen Gottesdienst hinaus. Fastenkurse werden allerorten angeboten und erfreuen sich eines lebhaften Interesses. In diesen Veranstaltungen geht es nicht nur um Wellness. Viele Menschen sind auch für spirituelle Impulse offen.

«....was in den Schriften geschrieben steht...»

Im Evangelium geht es um das Innen und Aussen der zentralen jüdischen Formen mit denen Jüdinnen und Juden zur Zeit Jesu und der jungen Kirche ihre Religiosität lebten: das Geben von Almosen, das Gebet und das Fasten. Im Zusammenhang mit dem Vater Unser kommt in der zweiten Hälfte noch das Thema des Vergebens hinzu (6,14f). Matthäus hat diese Worte in den Kontext der Bergpredigt gesetzt. Sie skizziert einen Entwurf eines Lebens in der Nachfolge Jesu. Der Evangelist hat die Bergpredigt literarisch sehr sorgfältig gestaltet. Innerhalb der Bergpredigt stellt das vorliegende sechste Kapitel und darin das Vater Unser das Zentrum dar.
Der erste Satz des sechsten Kapitels bildet eine Einführung in den gesamten Abschnitt und führt ein Motiv ein, das durch den gesamten Absatz 6,1-18 immer wiederkehrt: den Gegensatz zwischen einer auf Wirkung bedachten, äusserlichen und einer innerlichen, auf Gott hin ausgerichteten innerlichen Frömmigkeit. Beide Arten haben ihren Lohn. Das Wort «Lohn» und die beiden dazu verwendeten Verben «den Lohn erhalten/geben» tauchen im ganzen Kapitel immer wieder auf (vgl. vv 1.2.4.5.6.16.17.18) und bilden eine Art Grundmelodie. Die Menschen mit einer nach aussen, auf gesellschaftliche Selbstdarstellung ausgerichteten Frömmigkeit werden als «Heuchler» bezeichnet (vv. 2.5.16). Im Zusammenhang mit dem richtigen Beten bekommen aber auch die Heiden ihr Fett ab. Ihr Gebet ist geschwätzig, sie verwechseln die Quantität des Gebetes mit dessen Qualität.
Mit dieser Thematik stellt steht Jesus mitten im Strom der Überlieferungen Israels. Das Almosengeben, das Gebet und das Fasten haben sich im Frühjudentum neben dem Tempelkult als die zentralen Glaubensvollzüge im täglichen Leben frommer Juden herauskristallisiert.
Das wird im Buch Tobit deutlich. Das Buch hat seine vorliegende Gestalt vermutlich im 2. vorchristlichen Jahrhundert erhalten. Sein Verfasser lässt darin den Erzengel Rafael zu Wort kommen. Er bringt die Bedeutung diese drei Grundtätigkeiten jüdischer Frömmigkeit auf den Punkt: «Es ist gut, zu beten und zu fasten, barmherzig und gerecht zu sein. Lieber wenig, aber gerecht, als viel und ungerecht. Besser, barmherzig sein, als Gold aufhäufen. Denn Barmherzigkeit rettet vor dem Tod und reinigt von jeder Sünde. Wer barmherzig und gerecht ist, wird lange leben. Wer aber sündigt, ist der Feind seines eigenen Lebens».(Tobit 12,8-10).
Dass eine Gottesbeziehung ein stimmiges Leben im Alltag des Einzelnen und der Gesellschaft beinhaltet und zur Voraussetzung hat, steht für die Traditionen Israels und für Jesus ausser Frage. Die Kritik an einer als inkongruent empfundenen religiösen Praxis durchzieht das Erste Testament von seinen ältesten Büchern weg. Bereits der früheste der Propheten, Amos, kritisiert einen Kult in Israel, der nicht mit sozialer Gerechtigkeit einhergeht. Mit beissender Ironie ruft er den Reichen des Nordreichs zu: «Kommt nach Bet-El, und sündigt, kommt nach Gilgal, und sündigt noch mehr! Bringt jeden Morgen eure Schlachtopfer herbei, bringt am dritten Tag euren Zehnten! Verbrennt als Dankopfer gesäuertes Brot! Ruft zu freiwilligen Opfern auf, verkündet es laut, damit man es hört! Denn so gefällt es euch, ihr Söhne Israels – Spruch Gottes, des Herrn.» (Amos 4,4-5). Der Kult und die Frömmigkeit Israels sind für die biblische Tradition nicht ohne diese «Innenseite» denkbar. Die «Innenseite» der biblischen Frömmigkeit ist in der prophetischen Tradition die soziale Gerechtigkeit. Eine Gottesbeziehung, die die sozialen Realitäten ausser Acht lässt, entspricht nicht dem Gott Israels. In nachexilischer Zeit fasst das ein Text aus der Textsammlung des Buches Jesaja in folgende Worte: «Ist das ein Fasten, wie ich es liebe, ein Tag, an dem man sich der Busse unterzieht: wenn man den Kopf hängen lässt, so wie eine Binse sich neigt, wenn man sich mit Sack und Asche bedeckt? Nennst du das ein Fasten und einen Tag, der dem Herrn gefällt? Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen». (Jes 58,5-7). Die Worte Jesu in der Bergpredigt nehmen deutlichen Bezug auf dieses Prophetenwort. Ein Beispiel für eine andere Innenseite religiöser Praxis des Judentums, die auch in der Bergpredigt auftaucht, stammt aus dem weisheitlichen Buch Jesus Sirach. Religiöse Praxis geht von innen nach aussen. Sie bringt den Glauben als eine innere Wirklichkeit sichtbar nach aussen: «Bei all deinen guten Werken zeig ein frohes Gesicht, und weihe deinen Zehnten mit Freude! Wie Gott dir gegeben hat, so gib auch ihm, freigebig und so gut, wie du kannst. Denn er ist ein Gott, der vergilt, siebenfach wird er es dir erstatten. (Jesus Sirach 35,11-13). Der Weisheitslehrer identifiziert die innere Wirklichkeit, die durch die guten Werke nach aussen hinausscheint als die Freude. Almosen sind Ausdruck der Freude an Gott, die sich den Mitmenschen sichtbar mitteilt. Unschwer lässt sich das auch auf das Gebet und auf das Fasten übertragen.

Im Gespräch mit Matthäus

Der rote Faden im Evangelientext ist das Verhältnis von Innen- und Aussenseite des Glaubens. Er hat sich tief ins das kollektive (Unter-) Bewusstsein von Christinnen und Christen eingegraben. Das eigentliche Geschehen des Glaubens, so könnte man dem entnehmen, ist ein innerliches. Diese Auffassung begegnet heute in vielerlei Form. Religion ist zur Privatsache geworden. Frömmigkeit ist eine rein innerliche Angelegenheit. Texte wie der vorliegende haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Seine Verankerung in der Tradition des Ersten Testamentes ist wichtig, um nicht zu vergessen, dass die Praxis der Frömmigkeit nicht nur eine individuelle Innenseite hat, sondern auch eine gesellschaftliche. Auf der kompositionellen Ebene hat das der Evangelist Matthäus sehr wohl getan. Die Abschnitte zum Almosen, zum Gebet und zum Fasten sind nämlich um das Vater Unser angeordnet, das unter dem Thema der Heiligung des Namens Gottes und der Erfüllung seines Willens auf Erden steht. Jüdinnen und Juden würden sagen: unter dem Thema der Erfüllung der Tora, der Weisung Gottes.