Wir beraten

Kreativität in der Vielfalt   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 3. sonntag im Jahreskreis, Lk 1,1-4; 4,14-21

in: SKZ 2/2010

Unser heutiger Text scheint auf den ersten Blick klar und verständlich: Jesus wird in seiner Elternstadt Nazareth nicht erkannt und von den ungläubigen Bewohnern seiner Heimatstadt verstossen. Damit repräsentiert Nazareth – so scheint es – die «Verstocktheit Israels», die spätere Nicht-Rezeption der Botschaft Jesu durch Juden und Jüdinnen. So ist es leider in zahlreichen Lukaskommentaren – durchaus nicht nur älteren Datums – immer noch zu lesen.
Liest man Lukas nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit weiteren frühjüdischen Texten, zu denen auch die Evangelien gehören, bieten sich jedoch weitere Interpretationsansätze.

«...was in den Schriften geschrieben steht»

Lukas schildert Jesus auch im vorliegenden Text als Jude seiner Zeit: Jesus wird in der Synagoge am Sabbat zur Lesung aus den Propheten aufgerufen und legt den gelesenen Text aus. Dadurch ist Lukas einer der frühesten Belege für die bis heute im jüdischen Gottesdienst übliche Haftara, d.h. die Lesung eines Abschnittes aus den Propheten nach der Lesung aus dem Pentateuch. Die Evangelien sind auch eine Quelle für die Geschichte des Frühjudentums!
Der von Jesus ausgewählte Text aus Jesaja war in verschiedenen frühjüdischen Gruppierungen populär. Auch die jesuanische Interpretationsmethode weist Parallelen zu frühjüdischen Auslegungen auf: In Qumran wurde beispielsweise in Jes 61,1-2 die priesterlich-messianische Figur Melchisedek gesehen. Die Beispiele in Jesu langer Rede an die Bewohner Nazareths stammen alle aus der jüdischen Tradition, nämlich aus der hebräischen Bibel. Jesus sprengt weder durch seine Taten noch durch seine Worte den Rahmen frühjüdischer Vorstellungen.
Um das besondere Anliegen des Lukas zu verstehen, kann ein Blick auf die Parallelstellen bei Markus und Matthäus weiterhelfen: In beiden Versionen wird die Episode viel knapper und kürzer wiedergegeben. Auch die Akzente werden anders gesetzt. Sowohl bei Markus als auch bei Matthäus «ärgern» sich die Bewohner Nazareths über Jesus nachdem sie ihn durch die ausführliche Aufzählung seiner Verwandtschaft als «einen der ihren» identifiziert haben. Die grosse Nähe der Bewohner Nazareths zu Jesus führt zu einer verärgerten eindimensionalen Sichtweise auf diesen. Erst danach distanziert sich Jesus von seiner Vaterstadt. Die lange Rede Jesu und der dramatische Schluss fehlen bei den beiden Synoptikern.
Ganz anders schildert Lukas die Episode: Hier reagieren die Bewohner Nazareths positiv auf die Predigt Jesu: Sie «legen Zeugnis ab», und «wundern sich». Das sind bei Lukas Reaktionen mit positiven Konnotationen. Ihr einziger «Einwand» besteht darin, dass sie in Jesus den Sohn Josefs sehen. Anders als bei Markus und Matthäus führt dies nicht zu Ärger oder einer ablehnenden Haltung. Umso erstaunlicher ist angesichts dieser ersten positiven Reaktion dann Jesu lange Rede gegen seine Kompatrioten, die schliesslich in der Drohung gipfelt, in seiner Heimat keine Wunder zu wirken. Die Distanzierung geht bei Lukas – anders als bei Matthäus und Markus – von Jesus aus. Er provoziert seine Landsleute und initiiert dadurch den Bruch. Doch warum tut er dies?
Vor kurzem haben israelische Archäologen in Nazareth ein Haus, das ungefähr aus der Zeit Jesu stammen dürfte, gefunden, das etwas Licht auf den Heimatort Jesu wirft. Nazareth war zur Zeit Jesu ein unbekannter bescheidener Weiler, wo wohl jeder jeden kannte. Jesus muss sich von seinen Nachbarn, die ihm allzu nahe sind, lösen, um seine volle Wirkungskraft entfalten zu können. Der Kontrast zwischen seiner Herkunft und seiner Bestimmung ist wohl nirgends so gross wie in Nazareth. Deshalb muss diese Loslösung auch dort öffentlich stattfinden. Es geht bei Lukas noch nicht um einen Bruch zwischen Juden und einem sich formierenden Christentum. Die von Jesus angeführten biblischen Beispiele, Elija und Elischa, zeigen gerade, dass auch für das Judentum das Wirken von Propheten ausserhalb der eigenen Gemeinschaft möglich ist! Auch dieser «universalistische» Aspekt bindet Jesus an das Judentum.
Nur bei Lukas finden wir schliesslich das dramatische Ende der Episode: Die Bewohner Nazareths werden wütend und wollen Jesus vom Berg, auf dem ihre Stadt gebaut war, hinabstürzen, ohne dass sie Jesus dabei allerdings etwas anhaben können. Gerade dieses etwas schockierende gewaltsame Ende der Geschichte lässt aufhorchen. Die Geschichte weckt Assoziationen an biblische Vorbilder: Das gewaltsame Schicksal der Propheten ist aus der Bibel wohlbekannt (z.B. 2Chron 24,20-21 oder Hebr 11,37). Das gewalttätige Vorhaben der Bewohner Nazareths erinnert zudem an das aus Levitikus bekannte Sündenbock-Ritual: Gemäss Lev 16, 7-10 soll Aaron am Versöhnungstag zwei Ziegenböcke auswählen: Der eine soll Gott geopfert werden, der andere als «Sündenbock» in die Wüste geschickt werden, um stellvertretend alle Sünden des Volkes zu tragen. Sowohl die Wüste (Lk 4,1) als auch der Versöhnungstag (Lk 4,19: Beginn des «Gnadenjahres» und Versöhnungstag werden z.B. in Qumran miteinander verbunden) stehen im Kontext unseres Abschnittes und verstärken die lukanischen Anspielungen auf den Sündenbock.
Lukas geht es wohl nicht in erster Linie um den Konflikt zwischen den Bewohnern Nazareths und Jesus und sicher nicht um den Konflikt zwischen den Juden und dem entstehenden Christentum. Vielmehr möchte Lukas Jesu zukünftiges Wirken bereits bei seinem ersten Auftreten programmatisch aufzeigen: Jesus steht in den prophetisch-messianischen Traditionen, sein Tod wird sühnenden Charakter haben.

Mit Lukas im Gespräch

Die Lektüre von Lukas auf dem Hintergrund von frühjüdischen Texten, zu denen auch die Evangelien gehören, zeigt, dass unterschiedliche Auslegungen spannend und fruchtbar sein können. Lukas interpretiert die Episode von Jesu Predigt in Nazareth aus einer anderen Perspektive als Matthäus und Markus. Während die beiden letzteren eher die durch eine zu grosse Nähe hervorgerufene mangelnde Offenheit der Landsleute Jesu thematisieren, geht es bei Lukas um eine von Jesus initiierte Lösung von seiner nächsten Umgebung, um seine Wirkungskraft entfalten zu können. Lukas selber schreibt zu Beginn seines Evangeliums, dass sein Bericht einer unter anderen sei: «Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind» (Lk 1,1).
Vielleicht deutet auch die zu unserem Evangelium gehörige Lesung aus dem ersten Korintherbrief Kap. 12 auf diese «kreative Vielfalt», wo es ja nicht nur um die Einheit, sondern auch um die Vielfalt in der Kirche geht? Zeigt uns Lukas durch seine eigene originelle Lesart von Jesu Auftritt in Nazareth nicht, dass auch wir eingeladen sind, die biblischen Texte neu zu lesen, zu diskutieren und dadurch am Leben zu erhalten? Besonders schön ist diese Deutungsvielfalt in einem Dictum aus dem babylonischen Talmud ausgedrückt: «In der Schule Rabbi Jischmaels wurde gelehrt: Und wie ein Hammer Felsen zersplittert (Jer 23,29): Wie der Stein durch den Hammer in viele Splitter zerteilt wird, so zerfällt ein Schriftvers in viele Deutungen» (bSan 34a).

Simone Rosenkranz