Wir beraten

Wenn die Engel fortgegangen sind   

Dieter Bauer zum Evangelium an Neujahr – Hochfest der Gottesmutter Maria, Lk 2,16-21

in: SKZ 51-53/2009

Die römisch-katholische Kirche beginnt das Neue Jahr mit einem Marienfest. Dementsprechend ist auch der Text des Tagesevangeliums ausgewählt: Die Hirten finden «Maria und Josef und das Neugeborene» (Lk 2,16). Wird allerdings der einleitende Vers 15 zu dieser Geschichte (wie von der Leseordnung vorgesehen) abgetrennt, verliert sie ihren ganzen himmlischen Zauber und bleibt profan: ein Neugeborenes, in ärmlichen Verhältnissen geboren wie Millionen andere Kinder auch – bis heute.

«… was in den Schriften geschrieben steht.»

Unsere Geschichte beginnt aber damit, dass die Engel «in den Himmel fortgehen» (V. 15). Schriftkundige Leserinnen und Leser erinnert diese Bemerkung an das Fortgehen der drei Männer, die bei Abraham zu Besuch waren (Gen 18,22). Auch diese drei Männer wurden von der Tradition als Engel gedeutet. Und nachdem die Engel fortgegangen sind, steht Abraham allein vor Gott und bittet für Sodom. Ist es nicht bei den Hirten in unserer Geschichte ähnlich? Sie müssen nun – wie Abraham – Konsequenzen ziehen aus dieser Gottesbegegnung, die ihnen widerfahren ist. Wie sie dies tun, ist bemerkenswert:
- Sie kommen miteinander ins Gespräch (»redeten zueinander») um sich zu vergewissern, dass sie auch dasselbe gehört und erlebt haben.
- Sie fassen einen gemeinsamen Entschluss, nämlich nach Betlehem zu gehen.
- Sie wollen das «Ding»/»Wort» (griechisch: rhema) sehen, das geschehen ist und das JHWH ihnen offenbart hat.
Theologisch sind wir hier bei der interessanten Fragestellung, wie denn dieses «Ding», dieses «Wort», eine solche Offenbarung vom Himmel her praktisch aussehen soll. Ein «Wort» nämlich kann man vielleicht hören, aber nicht sehen. Es muss sich erst als «wahr» erweisen. Und dazu bedarf es des Aufbruchs. Die Hirten müssen sich in Bewegung setzen.
Die Rabbinen haben sich eingehend Gedanken darüber gemacht, wie denn eine solche Offenbarung vom Himmel her vorzustellen sei. In Ex 20,22 finden wir nämlich ebenfalls ein «Wort», das «gesehen» wurde: «Ihr habt selbst gesehen, dass ich vom Himmel mit euch redete». Das Problem der Rabbinen ist, wie man auf Erden etwas «sehen» kann, das «von den Himmeln geredet» wird. Die Lösung finden sie in Ex 19,2: «Und JHWH stieg herab auf den Berg Sinai». Und Rabbi Akiba sagt: «Das lehrt: Dass der Heilige – gebenedeit sei er! – die oberen Himmel herniedergesenkt hat auf den Gipfel des Berges» (Mekhilta zu Ex 20,22).
Doch was ist es, was die Hirten sehen werden? Es ist alles andere als spektakulär: Sie sehen «Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag» (Lk 2,16). Nehmen wir einmal unsere Weihnachtsromantik beiseite, dann müssen wir feststellen, dass dies für die Hirten der ganz alltägliche Anblick eines ärmlichen Haushalts gewesen sein muss, wo Mensch und Tier im selben Raum hausten und für das Neugeborene kein anderer Platz als der Futtertrog blieb.
Dass genau dies etwas Besonderes sein soll, können sie nur «vom Himmel her» ahnen. Dass Gott selbst «die oberen Himmel herniedergesenkt hat», dass sich in Betlehem Himmel und Erde berühren, das müssen die Hirten erst einmal für sich selbst zusammenbringen. Dass sie dies können, zeigt die Tatsache, dass sie «allen» weitererzählen müssen, «was ihnen über dieses Kind gesagt worden war» (also nicht: was sie gesehen hatten!).
Dieses Zusammenbringen von «Himmel und Erde» in dem kleinen Jesuskind in der Krippe ist es auch, was Maria gelingt. Sie hatte ja bereits vor der Geburt diese «Offenbarung vom Himmel her» in der Botschaft des Engels Gabriel erhalten (Lk 1,30-37). Und nun heisst es wörtlich: «Maria aber bewahrte alle diese Worte/Dinge und brachte sie in ihrem Herzen zusammen» (2,19). Alle mir bekannten Übersetzungen sind da etwas ungenau. Das griechische symballein, das Lukas hier verwendet, heisst eigentlich «zusammenwerfen». Und dieses bildhafte Wort gibt sehr gut wieder, was Maria tut: sie bringt mehrere verschiedene Worte und Dinge zusammen. Dadurch vermag sie auf einer tieferen Ebene den eigentlichen Sinn des Ganzen zu finden. Und wieder einmal muss darauf hingewiesen werden, dass im orientalischen Körperverständnis das «Herz Mariens» den Kopf meint, den «Verstand».
Maria wie die Hirten werden ihren Verstand gebrauchen müssen, damit sie auf das reagieren können, was ihnen «eingeleuchtet» hat. Von den Hirten wird z. B. erzählt, dass sie mit Lob und Preis Gottes reagieren auf das, was sie gehört und gesehen haben.

Mit Lukas im Gespräch

Der Evangelist Lukas hat in seiner Geburtsgeschichte, die im Übrigen von der Geburt selbst wie bei Matthäus nur in einem Halbsatz erzählt, Wesentliches davon festgehalten, wie Gottesbegegnung im Alltag stattfinden kann. Ganz am Ende seines Evangeliums erzählt er noch einmal eine ähnliche Geschichte (Lk 24,13ff):
Zwei Menschen sind miteinander unterwegs und «reden zueinander» über das, was mit Jesus geschehen war. Offensichtlich können sie ihre Hoffnungen und ihre enttäuschenden Erfahrungen nicht zusammen bringen. In diesen Alltag kommt nun ein Dritter, den sie nicht (er)kennen: Jesus. Er weist sie auf ihre «trägen Herzen» hin und legt ihnen die Schriften aus. Noch immer erkennen sie nicht. Und erst, als er – wie sie selbst es so oft erlebt hatten – mit ihnen das Brot bricht, dämmert es ihnen. Wie Schuppen fällt es ihnen von den Augen. Und obwohl sie ihn nun nicht mehr sehen, erkennen sie ihn.
Nun erst können sie beides zusammenbringen: die Enttäuschung des Alltags und den göttlichen Glanz, der sich ihnen in den Schriften und im Brechen des Brotes gezeigt hat. Die «trägen Herzen» nämlich waren durch die Schriftauslegung zu «brennenden Herzen» geworden, ohne dass sie dies gleich realisiert hätten. Doch nun, wo Jesus fort ist – also: «als die Engel fortgegangen sind» – machen sie sich auf den Weg, wie die Hirten, und erzählten «was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach» (24,35).
«Wenn die Engel fortgegangen sind», fängt es für uns erst an!