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…dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht   

Hans Rapp zum Evangelium am Fest der Hl. Familie: Lk 2,41–52

in: SKZ 50/2009

Die Familie und der Schutz der Familie stellt für viele Kirchenvertreter einen ganz zentralen Wert der christlichen Verkündigung dar. Es geht oft vergessen, dass das, was wir uns unter «Familie» vorstellen, ganz stark durch die vergangenen beiden Jahrhunderte geprägt ist. Ein Blick auf die Evangelien zeigt ein zwiespältiges Verhältnis Jesu zu seiner Familie.

«…was in den Schriften geschrieben steht»

Die Geschichte ist eine richtige «road story», die Erzählung von einer Reise, vom Unterwegssein. Das Pessachfest bildet ihren Rahmen. Es ist Lukas wichtig, Jesus und seine Familie tief im Judentum zu verankern. Sie beginnt mit einer allgemeinen Beschreibung der Eltern Jesu. Jedes Jahr pilgern sie nach Jerusalem. Sie sind richtig fromme Juden. Auch Maria, die Mutter Jesu, macht sich jährlich auf den Weg, obwohl dies in den biblischen Texten nur von den Männern verlangt wird. Auf der Heimreise dauert es einen Tag, bis die Eltern bemerken, dass sich ihr Sohn nicht unter der heimkehrenden Pilgergesellschaft aus Nazareth findet. Sie kehren um, suchen drei Tage lang in Jerusalem und finden ihn im Tempel, wie er dort unter den Lehrern sitzt, ihnen zuhört und ihnen Fragen stellt. Dass er seinen Eltern Sorge und Schmerz bereitet haben könnte, scheint ihn nicht zu berühren. Er antwortet mit einem Satz, der für die Eltern (vorerst) geheimnisvoll bleiben muss: «Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?» Die Geschichte endet mit der Rückkehr der Familie nach Nazareth. Jesus ordnet sich wieder ganz seiner Familie und der Gesellschaft Galiläas unter: «Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen» (Lk 2,51). Dieser Schluss stellt eine (vorläufige?) Versöhnung Jesu mit seiner Familie dar, die sich später wieder in Distanz umkehren wird. Weder Vater noch Mutter werden im Evangelium nach Lukas mehr eine wichtige Rolle spielen.

Lukas ist es sehr wichtig, Jesus und seine Familie im Judentum zu verankern. Er tut dies durch die Verankerung der Erzählung im Kontext des Pessachfests und durch die Verankerung Jesu in der jüdischen Erziehung. Das Pessachfest erinnert an die gelungene Befreiung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten. In der Tora sind die Beschreibungen und Vorschriften zu diesem Fest aus unterschiedlichen Zeiten enthalten (Ex 12 f.; 34,18; Lev 23,5–8; Num 28,16–25; Dtn 16,1–8): nach Dtn 16,16 ist die Feier des Pessachfestes für erwachsene Männer mit der Pflicht verbunden, eine Wallfahrt nach Jerusalem zu machen: «Dreimal im Jahr sollen alle deine Männer hingehen, um das Angesicht des Herrn, deines Gottes, an der Stätte, die er auswählt, zu schauen: am Fest der ungesäuerten Brote, am Wochenfest und am Laubhüttenfest.»

Der zweite wichtige Punkt, durch den Lukas Jesus als vorbildhaften Juden präsentiert, ist seine Weisheit. Jesus sitzt unter den Lehrern, hört ihnen zu und stellt prüfende Fragen. Lukas verwendet für die Fragen Jesu den Begriff «eperôtaô». Das kann eine intensive Bitte ausdrücken. Matthäus verwendet dieses Wort für die Fragen der Pharisäer an Jesus, wenn sie ihn auf die Probe stellen wollen (Mt 12,10). Er ist damit mit den Techniken der pharisäischen Gesetzesdiskussion vertraut.

Das Lernen des Wortes Gottes und der Überlieferung stellt im Judentum ein ganz wesentliches Element dar. Die Übergabe der Tradition wird als Aufgabe der Eltern gesehen. Dtn 6,4–7 formuliert das im sogenannten «Schema Israel» so: «Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen.» Über die Einheitsübersetzung hinaus kann man diese Weisung getrost so verstehen, dass sie an beide Elternteile von Söhnen und Töchtern gerichtet ist, denn den biblischen Schriften und insbesondere dem Buch Deuteronomium waren die Frauen als Teil des Volks Gottes sehr wohl bewusst. Auf einen weiteren genuin jüdischen Aspekt des Lernens weist der Schluss der Erzählung hin: «Jesus aber wuchs heran, und seine Weisheit nahm zu, und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen» (Lk 2,51 f.). Damit spielt Lukas auf die Weisheitstraditionen des Ersten Testaments an. Die Weisheit war in Israel und im frühen Judentum Richtschnur des Lebens. Sie zu erlangen war Ziel jeder Erziehung. So formuliert das Buch der Sprüche: «Mein Sohn, merk auf meinen weisen Rat, neige meiner Einsicht dein Ohr zu, damit du Besonnenheit bewahrst und deine Lippen auf Klugheit achten» (Spr 5,1 f.).

Im Gespräch mit Lukas

Die Beschreibung eines ambivalenten Verhältnisses Jesu zu seiner leiblichen Familie steht in den synoptischen Evangelien nicht allein da. Das Markusevangelium kennt eine äusserst scharfe Abgrenzung Jesu von seiner Familie. Lukas übernimmt diese Ambivalenz, wenn er Jesus später der geistlichen Familie der leiblichen den Vorzug geben lässt: «Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und danach handeln» (Lk 8,21). Lukas geht über das Markusevangelium hinaus, wenn er dieses Motiv auch in den Kindheitsgeschichten integriert. Es gibt in der frühjüdischen Literatur eine aufschlussreiche Parallele für diese Distanzierung von der Elterngeneration. Das Jubiläenbuch aus der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts schildert in der Kindheit des Patriarchen Abraham einen tiefen Bruch mit seinem Vater: «Der Knabe aber fing an, die Irrtümer auf Erden zu erkennen, wie alles hinter Schnitzbildern und hinter Unreinigkeiten her irrte. Sein Vater lehrte ihn die Schrift, als er zwei Jahrwochen alt war [=14 Jahre], dann trennte er sich von seinem Vater, um nicht mit ihm die Götzen anbeten zu müssen» (Jub 11,16). Mit Abraham beginnt etwas völlig Neues, das mit dem Bruch mit der eigenen Familie einsetzt.

Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung war die Auseinandersetzung um die Interpretation der jüdischen Tradition das brennendste Thema. Der messianische Glaube der frühen Christusgläubigen hatte in der vielschichtigen jüdischen Tradition ebenso seinen Platz wie die priesterorientierte Deutung der Menschen, denen die Bibliothek von Qumran gehörte oder die praktische Gesetzesfrömmigkeit der Pharisäer. Die griechisch gebildeten Juden der Diaspora hatten einen anderen Zugang als die aramäisch sprechenden Menschen in Galiläa. Lukas scheint es darum zu gehen, Jesus innerhalb der unterschiedlichen Bilder jüdischer Identität zu positionieren. Dieser Jesus wird mit seiner Botschaft vom Reich Gottes in seiner engeren Heimat nur von wenigen verstanden werden. Dafür begeistern sich zunächst zahlreiche Gebildete und schliesslich wird seine Botschaft auch Menschen ausserhalb des Judentums erfassen. Diese Bewegung ist in der Distanz Jesu von seinen Eltern bereits angelegt. Sie bleibt aber für Lukas im Rahmen des Judentums.

Dr. Hans Rapp ist Leiter des Katholischen Bildungswerkes Vorarlberg im Diözesanhaus in Feldkirch.