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Weihnachten – die andere Sicht   

Winfried Bader zum Evangelium an Weihnachten am Tag: Johannes 1,1–18

in: SKZ 50/2009

Die Idylle der Nacht klingt noch nach, die rührende Erzählung von dem Kind im Stall und den Hirten, da kommt dieser sehr abstrakte und philosophisch anmutende Text daher, der nicht das Gefühl, sondern den Kopf anspricht und nur schwer zur Festmusik der Gottesdienste passt.

«…was in den Schriften geschrieben steht»

Ganz unterschiedlich beginnen die Evangelisten: Markus setzt mit der Taufe Jesus durch Johannes ein. Er greift dafür auf Jesaja zurück und hat als ersten Satz eine geniale Zusammenfassung seines ganzen Werks: «Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes» (Mk 1,1).

Lukas beginnt beim Kind Jesus, genauer: kurz vor seiner Zeugung, und greift etwas später im Stammbaum bis auf Adam zurück. Matthäus stellt an den Anfang einen Stammbaum, der Abraham als Wurzel hat: «Stammbaum Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams» (Mt 1,1).

Johannes greift am weitesten aus. Er spielt zu Beginn auf den Schöpfungsbericht an, ja, seine Gedanken gehen sogar noch der Schöpfung voraus: «Im Anfang war das Wort» (Joh 1,1). Ähnlich wie bei Markus ist der Anfang wichtig und ähnlich wie dort («Sohn Gottes») ist auch bei Johannes eine innergöttliche Unterscheidung wichtig. Gott und Wort – im Griechischen steht «Logos», das heisst Wort oder Vernunft in einem sehr realen und wirkungsvollen Sinn; Goethes Faust übersetzt daher: Tat. Wo in der Vorlage Gen 1,1 als drittes Wort geschrieben stand «Gott» («Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde»), da steht bei Johannes «Wort/Tat». Zwischen Wort und Gott wird eine Identität ausgesagt.

«Gott sprach: Es werde Licht!» (Gen 1,3). Gott und Wort sind offensichtlich nicht wirklich identisch. Das tatkräftige Wort geht aus Gott hervor und schafft die Welt. «Alles ist durch es geworden» (Joh 1,3). «Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch (= Lebensatem, Geist) seines Mundes» (Ps 33,6). Der Psalm verknüpft – wie Gen 1,2 «und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser» – den Schöpfungsakt mit dem Geist (gr. Pneuma – Luft, Wind, Lebensatem). Mit diesem Beginn seines Zeugnisses – Johannes bezeichnet es selbst nicht als Evangelium – greift Johannes nicht nur auf den Anfang der Welt zurück, sondern auf den eigentlichen Ursprung Gott. Er denkt wie die spätere Lehre vom dreifaltigen Gott nach, wie die schöpferische Dynamik Gottes und seine Veränderungen – letztlich seine Menschwerdung – begrifflich zu fassen sind: «Und der Logos war zu dem Gott hin, doch Gott von Art war auch der Logos» (Joh 1,1bc).

In der Schöpfung wird zunächst das Licht geschaffen, danach kann vielfältiges Leben entstehen. «In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen» (Joh 1,4). «Denn bei dir ist der Quell des Lebens; in deinem Licht sehen wir das Licht» (Ps 36,10). Das Symbol «Licht», das in den Abschiedsreden Jesu (Joh 12) ein wichtiges Bild ist, («Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt» Joh 12,46) ist eingeführt. Johannes verweist damit auf Jesaja: «Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf» (Jes 9,1).

«Das Licht strahlt in der Dunkelheit, aber die Dunkelheit hat sich ihm verschlossen» (Joh 1,5). Das Licht wird abgelehnt. Noch bevor Johannes seine Erzählung über das Wirken Jesus begonnen hat, nimmt er die Passion und das Kreuz, den Akt der Ablehnung des Lichts schlechthin, in Blick. Johannes lässt später Jesus selbst diese Ablehnung diskutieren und kommentieren (Joh 12,31–50). Damit entfaltet er einen Gedanken von Jesaja. «Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen» (Jes 6,9). Angesichts der eingetretenen Katstrophe des Exils wird im Rückblick und zur Erklärung der Ursache für das Scheitern des Propheten dieser «Verstockungsbefehl» in den Text eingefügt. So schreibt auch Johannes im Wissen um das historische Scheitern Jesu und benennt dies gleich zu Beginn.

Im Buch Henoch (2. Jh. v. Chr.) gibt es in Bezug auf die Weisheit einen ähnlichen Gedanken: «Als die Weisheit kam, um unter den Menschenkindern Wohnung zu machen, und keine Wohnung fand, kehrte die Weisheit an ihren Ort zurück und nahm unter den Engeln ihren Sitz» (Henoch 42,2). Die böse Welt der Finsternis kann aber nicht das Licht auslöschen. Das Licht setzt sich durch: «Die Weisheit leuchtet herrlicher als die Sonne und steht höher als jeder Stern; sie übertrifft sogar das Tageslicht. Denn auf den Tag folgt die Nacht; aber über die Weisheit hat das Böse keine Macht» (Weish 7,29–30). Zur Zeit des Johannes setzt das Judentum das Licht der Weisheit mit dem Licht des Gesetzes gleich (4 Esdr 14,21).

Mit dem Nennen des Namens Johannes (Jo-chanan = YHWH hat sich gnädig erwiesen; Joh 1,6) tritt der Text nach dem kosmischen Rückblick in die historische Welt ein. Er weitet aber den Blick auf ein universales Geschehen, das nicht nur Auserwählte, sondern alle betrifft: «Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt» (Joh 1,9). «In die Welt kommen» hat den Sinn von erscheinen oder heilbringend nahe sein. «Und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer wie der Sohn eines Menschen. … Und ihm wurde Herrschaft und Ehre und Königtum gegeben, und alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, die nicht vergeht» (Dan 7,13–14). «Gesegnet sei, der kommt im Namen YHWH. … YHWH ist Gott. Er hat uns Licht gegeben» (Ps 118,26–27). Dieses Kommen bedeutet für die Welt einen Durchbruch und eine Veränderung.

«Das Wort wurde Fleisch und zeltete unter uns» (Joh 1,14). Das ist der zentrale Gedanke, wie Johannes sich die Verbindung von Gott und Welt vorstellt. «Zelten» verweist auf das Zeltheiligtum Israels. «Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, damit ich in ihrer Mitte wohne» (Ex 25,8). In diesem Zelt wurde nicht nur die Bundeslade aufbewahrt, sondern Gott selbst wohnt (hebr. schachan) darin. Es ist der Gedanke der Einwohnung (= Schechina) Gottes in der Welt, seine Immanenz, sein Funken. Die Schechina wird in jüdischer Vorstellung fast personal betrachtet. Es ist die weibliche Seite Gottes, die Ruhe, Glück, Heiligkeit und Frieden ausstrahlt.

Mit Johannes im Gespräch

Warum mutet uns Johannes am Weihnachtsmorgen diesen Text zu? Johannes öffnet uns die Augen, dass auch sein Kollege Lukas – zwar erzählerisch verpackt – keine idyllischen «Fakten», sondern ein theologisches Konzept erzählt: «Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr» (Lk 2,11). Das ist im Kern die gleiche Aussage wie bei Johannes. Seine zentralen Begriffe aneinandergereiht, ergeben eine Struktur, aus der sich leicht die Erzählung des Lukas und viele andere gefühlvolle Weihnachtslegenden entwickeln lassen: Wort, Gott, Leben, Licht, Welt, Fleisch, Kinder Gottes, Zeugnis, Vater.

Dr. Winfried Bader ist Alttestamentler, war Lektor bei der Deutschen Bibelgesellschaft und Programmleiter beim Verlag Katholisches Bibelwerk in Stuttgart und arbeitet nun als Pastoralassistent in Sursee.