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Zwischen Vorfreude und Krise   

Simone Rosenkranz Verhelst zum Evangelium am 3. Adventssonntag Lk 3,10–18

in: SKZ 49/2009

Mitten in der Vorfreude auf das Weihnachtsfest wirkt das dritte Kapitel des Lukasevangeliums beunruhigend: So befremdet es zunächst, dass sich in die Festvorbereitungen Drohungen über ein kommendes Strafgericht mischen. Das hat offenbar bereits die Herausgeber der Leseordnung gestört, denn die Verse Lk 3,7–9 wurden im offiziellen Lesezyklus einfach weggelassen. In den gestrichenen Versen wird das Volk als «Schlangenbrut» bezeichnet, dem das Strafgericht durch Feuer angedroht wird. Die Menschen sollten sich nicht auf gerechte Vorfahren wie Abraham berufen, denn Rettung vor dem kommenden Strafgericht könnten allein eigene «rechtschaffene Früchte der Busse» erwirken. Johannes’ einführende Worte wirken umso verstörender als das Jesajazitat, welches seine Worte einleitet, erwarten lässt, dass nun eine tröstende Rede folgt.

Es ist schade, solche «Spannungen» des biblischen Textes zu ignorieren. Gerade durch sie wird eine Auseinandersetzung mit Lukas’ Text interessant. Lukas wartet nämlich mit weiteren «Ungereimtheiten» auf: So wird etwa im ersten Teil des Kapitels das Feuer als furchteinflössendes Mittel der Strafe eingeführt. Doch später ist genau dieses Feuer eines der Zeichen, welches das rettende Wirken Jesu charakterisiert. Lassen wir uns auf diese «Stolpersteine» des lukanischen Textes ein!

«…was in den Schriften geschrieben steht»

Lukas erzählt seine Geschichte über Johannes nicht in einem Vakuum, sondern greift auf zahlreiche biblische und andere frühjüdische Traditionen zurück. Die Verwurzelung des lukanischen Textes in seinem Umfeld soll anhand von ein paar Beispielen gezeigt werden:
Die Landschaft, in der Johannes wirkt, ist keine neutrale Landschaft, kein «unbeschriebens Blatt»: Der Ausdruck «das ganze Land am Jordan» ist eine Anspielung auf die Geschichte von Lot und Abraham, die sich das Land nach einem Streit unter ihren Hirten aufteilten. Lot wählte «das ganze Land des Jordans» (Gen 13,10), das auch das westliche Ufer des Toten Meeres umfasste. Bekanntlich wurde später Lots Anteil, Sodom und Gomorrha, wegen der Sünden seiner Bewohner durch Feuer zerstört. Doch vor seiner Zerstörung glich dieser Landstreifen – so lesen wir in der Genesis weiter – einem «Garten Eden» (Gen 13,10). Johannes wirkt demnach in einem selbstverschuldet zerstörten Paradies. Seine abrupte Strafandrohung wird auf diesem Hintergrund vielleicht verständlicher: Es geht ihm darum, die Menschen vor einer drohenden Katastrophe, zu der es Präzedenzfälle gibt, zu retten.

Die harschen Worte des Johannes stehen nicht singulär da, ähnliche Ausdrücke und Bilder finden wir beispielsweise bei Jesaja 5,20–24: «Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen (…). Darum, wie des Feuers Flamme Stroh verzehrt und Stoppeln vergehen in der Flamme, so wird ihre Wurzel verfaulen und ihre Blüte auffliegen wie Staub.» Auch das Bild des Baumes, der sowohl das Potential des Lebens und der Fruchtbarkeit als auch des plötzlichen Untergehens in sich trägt, ist aus der hebräischen Bibel wohlbekannt: «Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder (…). Der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit (…). Aber so sind die Gottlosen nicht, sondern wie Spreu, die der Wind zerstreut» (Psalm 1,1–4). Johannes verwendet Bilder, die seinen Zuhörern und Zuhörerinnen bekannt sind und Assoziationen wecken: Der fruchttragende Baum etwa lässt an paradiesische Zustände denken.

Auch Details des lukanischen Textes werden auf dem Hintergrund biblischer Texte verständlicher: In Jes 63,16 wird betont, dass das Volk nur Gott habe, nur auf Gott vertrauen solle, Abraham könne nichts ausrichten: «Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiss von nichts.» Nur auf die unendliche Macht Gottes – auch nicht auf diejenige von noch so grossen Persönlichkeiten wie Abraham – soll vertraut werden.

Die Praxis des «Taufens» durch Johannes schliesslich ist wohl ebenso im Kontext zeitgenössischer jüdischer Reinigungsrituale zu sehen, die verschiedene Bedeutungen haben konnten. So markieren Bäder und Waschungen grössere oder kleinere Wendepunkte im Leben eines Einzelnen: Sei es der Übergang von einem kultisch unreinen in einen kultisch reinen Zustand mit seinen alltagsrelevanten Konsequenzen, oder sei es der Übertritt ins Judentum. Das «Taufen» im Jordan greift aber auch biblische Traditionen auf, nämlich die Geschichte von der Heilung des aramäischen Feldherrn Naaman durch den Propheten Elischa. Um die Heilung herbeizuführen, soll sich Naaman auf Geheiss Elischas sieben Mal im Jordan baden, was er nach einigem Widerstreben – er stellt sich die Heilung nämlich spektakulärer vor – auch tut (2 Reg 5,14). Als Folge dieser Heilung bekehrt sich Naaman zum Gott Israels. Wie im Lukasevangelium markiert das «Bad» in der Geschichte von Naaman eine Wende, eine Hinwendung zu Gott. Klar wird aus diesen Beispielen aber auch, dass die «Taufe» allein nie genügt, sondern nur zusammen mit entsprechenden Taten wirksam ist.

Ebenfalls ein aus dem jüdischen Umfeld bekanntes Konzept ist schliesslich die «Umkehr». Das hebräische «Teschuwa» bedeutet «Rückkehr» zunächst im wörtlichen Sinne, dann aber auch im Sinne einer «inneren Wiederherstellung», einer Reue oder Busse. Die «Teschuwa» ist im rabbinischen Judentum ein zentraler Begriff. Gemäss dem babylonischen Talmud gehört die «Umkehr» zu den Dingen, die Gott vor der eigentlichen Erschaffung der Welt erschaffen hat, da ohne sie die Welt keinen Bestand haben könnte (bPes 54a).

Mit Lukas im Gespräch

Einer der möglichen «Codes», um unseren Text verstehbar zu machen, scheint mir genau diese «Umkehr» zu sein: Die «Umkehr» zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte dritte Kapitel. Dabei geht es nicht nur um die innere Umkehr der Menschen, sondern auch darum, dass plötzliche Wendungen eintreten können: Die leblosen Steine können zu quirligen Kindern werden, das Paradies zur Wüste und umgekehrt, das zerstörerische Feuer zu einem rettenden Feuer usw. Doch diesen beunruhigenden Umbrüchen steht der Mensch nicht machtlos oder ausgeliefert gegenüber, im Gegenteil: Auch der Mensch ist in der Lage, eine Umkehr zu vollziehen. Dabei ist er allerdings für sich selber verantwortlich und kann nicht auf die Verdienste von Vorfahren zurückgreifen (Lk 3,8). Johannes gibt praktische Ratschläge wie diese «Umkehr» aussehen kann: Es geht nicht um ein Umstülpen der gesamten Lebenssituation, sondern um eine ethisch-solidarische Lebensführung, dort, wo man gerade steht: Wer Überfluss hat, soll etwas den Armen geben, wer mit dem Geld anderer zu tun hat, soll dies verantwortungsvoll tun, wer Kriegsdienst leistet, soll keine Gewalt anwenden.
Die Zeit vor dem erwarteten Fest, vor dem Kommen Jesu, ist eine kritische Zeit: Es ist eine unruhige Zeit, in der vieles «auf der Kippe» steht. Die «Umkehr» garantiert in einer Welt, die ins Wanken geraten ist, Halt und Stabilität. Ohne die Umkehr hat die Welt keinen Bestand. Die Umkehr ist – mitten in Krise und Chaos – der erste Schritt zurück ins Paradies.

Dr. phil. Simone Rosenkranz ist nach dem Studium von Judaistik, Islamwissenschaft und Philosophie in Luzern, Basel und Jerusalem als Fachereferentin an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern sowie als Lehrbeauftragte an der Universität Luzern tätig.