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Meine Augen haben das Heil gesehen!   

Dieter Bauer zum Evangelium am 2. Adventssonntag: Lk 3,1–6

in: SKZ 48/2009

Advent ist die Zeit der Erwartung. Von wem erwarten wir uns etwas? Sind es die Grossen und Mächtigen, die Politiker und die Wirtschaftsbosse, denen wir zutrauen, etwas in dieser Welt zu bewegen? Oder erwarten wir uns schon gar nichts mehr? Von niemand?

«…was in den Schriften geschrieben steht»

Die Grossen und Mächtigen stehen auch am Anfang unseres Evangeliums: «Kaiser Tiberius, Pontius Pilatus, Statthalter von Judäa, Herodes, Tetrarch von Galiläa, sein Bruder Philippus, Tetrarch von Ituräa und Trachonitis, Lysanias, Tetrarch von Abilene» und die «Hohepriester Hannas und Kajaphas» (Lk 3,1 f.).
Für eine reine Datierung der zu schildernden Vorgänge hätte die Nennung des kaiserlichen Regierungsjahres genügt. Aber Lukas ging es um etwas anderes: Das Eigentliche dieser Welt geschieht nicht in den Palästen und an den Regierungssitzen der Mächtigen, sondern in der Wüste: «Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias. Und er zog in die Gegend am Jordan und verkündigte dort überall Umkehr und Taufe zur Vergebung der Sünden» (Lk 3,2 f.).

Mit der «Wüste» spielt Lukas ein Thema ein, das beim Exodus, der Volkwerdung Israels, eine ganz entscheidende Rolle spielte. Die Befreiung der Hebräer aus der Sklaverei in Ägypten geschah über einen 40-jährigen Weg durch die Wüste (u. a. Ex 16,35: «Die Israeliten assen vierzig Jahre lang Manna, bis sie in bewohntes Land kamen. Sie assen Manna, bis sie die Grenze von Kanaan erreichten»). Und in der Wüste lernen sie, die jahrzehntelang Versklavten, sich auf die Freiheit vorzubereiten. Ganz bewusst bringt sie ihr Gott JHWH in die Wüste, damit sie ihm dort zu einem «Reich von Priestern und zu einem heiligen Volk» werden können (Ex 19,6): «Ihr habt gesehen …, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe» (Ex 19,4). Dort, am Sinai, erhalten sie die zehn Wegweisungen in die neue Freiheit. Damit sie im gelobten Land nicht wieder in die alten Unabhängigkeiten verfallen! Die «alten» an die Sklaverei gewöhnten Hebräerinnen und Hebräer können das nicht mehr lernen, deshalb muss die Auszugsgeneration erst einmal sterben. Aber den «Jungen» wird es zugetraut!

Und trotzdem geht es auch im gelobten Land wieder schief. Das Volk schreit irgendwann nach einem König, obwohl es ausdrücklich vom Propheten gewarnt wird: «Das werden die Rechte des Königs sein, der über euch herrschen wird: Er wird eure Söhne holen und sie für sich bei seinen Wagen und seinen Pferden verwenden und sie werden vor seinem Wagen herlaufen. (…) Ihr selber aber werdet seine Sklaven sein» (1 Sam 8,11–14). Samuel hatte es prophezeit: Ein Königtum in Israel wird sich nicht massgeblich von der Herrschaft Pharaos unterscheiden. Spätestens mit dem Königtum wird die wiedergewonnene Freiheit nach dem Auszug aus Ägypten verspielt! Und irgendwann kommen noch mächtigere Könige wie der Babylonier Nebukadnezzar. Und er macht Jerusalem dem Erdboden gleich. Das Volk wandert in die «babylonische Gefangenschaft». Ein Déja-vu!

Wieder dauert es einige Zeit, bis auf Propheten gehört wird. Ein uns unbekannter Exilsprophet, dessen Worte wir im Jesajabuch finden (Jes 40–55), verkündet einen neuen Exodus: «Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Strasse für unseren Gott! Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben. Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, alle Sterblichen werden sie sehen» (Jes 40,3–5). Und irgendwann ist es so weit. Ein Herrschaftswechsel von den Babyloniern zu den Persern ermöglicht die Rückkehr der Verbannten.

Mit Lukas im Gespräch

An die Worte des Exilspropheten knüpft fast 600 Jahre später der Evangelist Lukas an. Wieder steht da einer, der aufruft, dem Herrn den Weg in die Freiheit zu bahnen. Aber: Ist das nicht längst geschehen? Ist das Volk nicht heimgekehrt aus dem Exil? Ist Jerusalem nicht wieder aufgebaut worden? Steht nicht der Tempel wieder da, wo er hingehört, so gross und prächtig wie noch nie? (Lk 21,5).
Ja, schon, aber … von Freiheit ist weit und breit keine Spur! Der Aufstand gegen die griechische Oberherrschaft hatte im 2. Jh. v. Chr. zu einem neuen jüdischen Königtum geführt, das sich noch schlimmer aufführte als die verhassten Nachfolger Alexanders des Grossen. Und als die Römer gekommen waren um das Land zu «befrieden», wurden sie zunächst fast wie Befreier begrüsst. Doch das währte nicht lange. Schnell wurde klar, dass die neue Besatzungsmacht das jüdische Volk auch nur ausbeutete. Und willfährige Kleinkönige und die (notgedrungen?) kollaborierende Hohepriesterkaste unterstützten sie dabei noch. Und wieder wartete das jüdische Volk auf einen Befreier, der diese Welt endlich wieder vom Kopf auf die Füsse stellen sollte.

Davon hatte im Lukasevangelium bereits das Mädchen aus Nazaret gesungen, das zur Mutter Jesu werden sollte: «Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen» (Lk 1,52). Und der alte Simeon im Tempel sieht genau das kommen, was der Exilsprophet schon gesagt hat: «Meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast» (Lk 2,30 f.).

Was geschieht, wenn solche Erwartungen, genährt durch eine Jahrhunderte lange Leidens-, aber auch Hoffnungsgeschichte, neu aufbrechen? Johannes, der Sohn des Zacharias, aus priesterlicher Familie, verkündet «eine Taufe der Umkehr». Diese Taufe soll stattfinden «auf den Nachlass der Sünden hin» (Lk 3,2). Jesus selbst wird es sein, der zum Protagonisten dieses Nachlasses der Sünden wird. Und der damit Erwartungen schürt und Hoffnungen weckt: bei denen, die es nötig haben, bei den Bedürftigen, Kranken und Aussenseitern der Gesellschaft. Ihnen sagt er den Nachlass der Sünden zu wie dem Gelähmten, der auf unorthodoxe Art und Weise durch das Dach zu Jesus kommen muss, weil die «Pharisäer und Gesetzeslehrer» den Weg versperren: «Mensch, nachgelassen sind dir deine Sünden» (Lk 5,20). Für die «Pharisäer und Gesetzeslehrer», die nicht historisch gemeint sind, sondern exemplarisch für die «Betonköpfe aller Zeiten» stehen, ist das «Gotteslästerung» (Lk 5,21).

Das stimmt aber nicht: Die Betonierung des Heilsweges zu Gott, wie er z. B. im Sündennachlass am Tempel durch die (Hohen-)Priester verwaltet wurde, ist Gotteslästerung! Und so ist das bis heute mit der Verwaltung des göttlichen Gnadenschatzes.

Der Priestersohn Johannes erwartet sich den Nachlass der Sünden nicht am Tempel, sondern in der Wüste. Er fordert die Menschen auf, diesen Weg zu gehen und sich auf die Botschaft dessen einzulassen, der freigebig den Nachlass der Sünden an all diejenigen verkündet, die innerhalb des Systems chancenlos wären. Damit machen sich aber sowohl Johannes, der geköpft, wie Jesus, der gekreuzigt werden wird, zu Gegnern des Systems. Und trotzdem besteht Lukas darauf, alles von Jesus zu erwarten! Erwarten wir uns wirklich etwas von solchen Randfiguren? Sehen wir das Heil?